Engel im Regen | Er fand einen nassen Hund im Regen – und begegnete einem Freund aus der Kindheit

Teil 10: Der letzte Spaziergang

Der Frost kam über Nacht.

Fein wie Puderzucker lag er auf den Fensterbänken, auf den herabgefallenen Blättern, auf dem Rücken von Matty, die sich noch schlafend auf dem Teppich streckte.
Paul stand am Fenster, dampfende Tasse in der Hand, und betrachtete den Atem der Welt.
Er war ruhig in diesen Tagen.
Leiser als sonst.
Aber nicht leer.

Der Spaziergang führte sie wieder an den Waldrand.
Die Luft war klar, fast scharf.
Paul trug eine dicke Jacke, Matty tappte schwerfällig neben ihm, Engel lief voraus.

Sie blieb plötzlich stehen.
Ein schmaler Trampelpfad führte von der bekannten Strecke ab – zwischen zwei Eichen hindurch, kaum zu sehen.
Engel sah zu Paul, dann weiter den Pfad entlang.

„Was hast du da, Mädchen?“ fragte er.

Sie bellte leise. Nur einmal.
Und ging los.

Paul zögerte kurz – dann folgte er ihr.

Der Pfad schlängelte sich durch niedriges Gestrüpp, über morsche Äste, zwischen den letzten Farnen hindurch.
Und plötzlich öffnete sich der Wald.
Eine kleine Lichtung, versteckt, sonnendurchflutet.

Engel stand mittendrin, den Kopf leicht erhoben, die Ohren wach.
Matty setzte sich langsam am Rand ins Laub.
Paul trat näher, betrachtete die Stelle.

Nichts Besonderes.
Und doch – etwas war da.
Eine Stille, die anders klang.
Wie eine Einladung.

Er setzte sich ins weiche Moos.
Engel legte sich neben ihn, den Kopf auf seinen Schuh.
Paul atmete tief ein.
Es roch nach Erde, nach Baumrinde – und nach Frieden.

„Das also ist der Platz“, flüsterte er.

Er wusste selbst nicht, warum er das sagte.
Aber es fühlte sich wahr an.
Als hätte ihn jemand hergeführt, der ihn kannte.

Am nächsten Morgen schrieb er in sein Notizbuch:

„Wenn ich gehe, dann hier. Unter diesen Bäumen. Engel kennt den Weg.“

Die Tage wurden kürzer.
Matty schlief mehr.
Engel wachte mehr.
Paul ging langsamer. Aber er ging.
Immer.
Mit beiden.

An einem Dienstag kam Jonah mit seiner Mutter zu Besuch.
Ein stiller Nachmittag, bei Tee und Keksen.

Paul zeigte ihm den Garten.
Jonah strich Engel über den Rücken, erzählte leise von einem Traum.
„Sie hat mir einen Apfel gebracht. Und gesagt, dass alles gut wird.“

Seine Mutter lächelte, leicht verlegen.
Aber Paul nickte nur.
Er verstand.

Am Abend ging er in die Werkstatt.
Holte die alte Kiste mit den Kindheitssachen hervor.
Darin: ein Holzherz, das er und Walter einmal aus einem Stück Apfelbaum geschnitzt hatten.

Er rieb es mit einem Tuch sauber, schnitzte mit ruhiger Hand ein Datum ein:
2025

Dann band er es Engel mit einem feinen Lederband ans Halsband.
Sie wedelte leicht – nicht neugierig, sondern wie jemand, der ein Amt annimmt.

In der Nacht wachte Paul auf.
Nicht von Geräuschen.
Sondern von einer inneren Stille.

Er setzte sich auf, streichelte Matty, die leise schnaufte.
Engel saß im Türrahmen.
Wach.
Ruhig.

„Ja“, sagte er. „Ich weiß.“

Am frühen Morgen – es war der 21. November – machte Paul Tee, füllte die Näpfe, zog sich warm an.
Dann nahm er Matty an die Leine, Engel lief frei.

Sie gingen den alten Pfad.
Vorbei an der Mümling.
Durch das Kastanienwäldchen.
Bis zur kleinen Lichtung.

Dort blieb Paul stehen.
Setzte sich.
Matty legte sich zu seinen Füßen.
Engel setzte sich neben ihn.

Die Sonne stieg langsam zwischen die Äste.
Vögel riefen in der Ferne.
Und Paul schloss die Augen.

Er dachte an Rita.
An Walter.
An Engel.

Dann an Jonah.
Und an sich selbst – den Jungen mit dem Taschenmesser, den Mann mit dem weichen Herzen.

Er atmete noch einmal tief ein.

Und ließ los.

Als Lena ihn fand – ein paar Stunden später, nach einem Anruf der Schule – lag er friedlich da.
Die beiden Hunde bei ihm.
Matty an der Seite.
Engel direkt an seinem Herzen.

Kein Zettel.
Keine großen Worte.

Nur ein stilles Lächeln auf seinem Gesicht.
Und das kleine Holzherz an Engels Halsband.

Sie begruben ihn auf einer Wiese nahe der Lichtung.
Mit Blick in den Wald, so wie er es mochte.
Ein einfacher Stein.
Ein kleiner Apfelbaum daneben.

Auf dem Stein stand nur:

Paul Kramer – Einer, der treu blieb

Darunter:
Und Engel ging mit ihm.

Denn am Abend, als Lena nach Hause kam, lag Matty allein im Flur.
Engel war verschwunden.

Sie wurde nie gefunden.
Aber man sagt, in manchen Winternächten sieht man eine helle Hündin durch den Wald streifen – leise, wie ein Gedanke, der nie ganz verschwindet.

Und manchmal, an der alten Schule, setzen sich Kinder auf den Boden –
und strecken die Hand aus,
als wollten sie jemanden begrüßen,
der nicht mehr da ist,
aber nie ganz weg war.

Und wenn Engel im Regen erscheint, dann weiß jemand: Es ist Zeit, sich zu erinnern – und weiterzugehen.

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