Ich hielt mein Versprechen an meine Kameraden und doch stand ich plötzlich im Flur einer deutschen Klinik und hörte einen Satz, den ich nie vergessen werde:
„Mit dieser Weste kommen Sie hier nicht rein. Das ist hier kein Treff für Gangs, sondern eine Kinderklinik.“
Hinter der Glastür lag meine Tochter. Zu früh geboren. Am Rand zwischen Leben und Tod.
Ich heiße Jens Richter, 47 Jahre alt, ehemaliger Berufsfeuerwehrmann. Fünfundzwanzig Jahre habe ich in einer Großstadt im Westen Deutschlands Brände gelöscht, Menschen aus Autos geschnitten, Kinder aus verrauchten Wohnungen getragen.
Heute bin ich in Frührente. Ein Einsatz ist schiefgelaufen, die Lunge macht nicht mehr alles mit. Ich arbeite ein paar Stunden in einem Baumarkt und engagiere mich ehrenamtlich in einem kleinen Verein: den „Florian Riders“.
Wir sind keine Rocker. Wir sind ehemalige Feuerwehrleute, Rettungskräfte und Notfallsanitäter, die auf alten Maschinen durch die Gegend fahren und Spenden für Verletzte und ihre Familien sammeln. Unsere Westen sind aus Leder, ja. Aber unsere Patches stehen für Einsätze, nicht für Schlägereien.
Und an diesem Morgen standen genau diese Patches zwischen mir und meiner Tochter.
Unsere Kleine kam in der 26. Schwangerschaftswoche. 980 Gramm. Lunge nicht richtig entwickelt. Die Ärzte gaben uns vielleicht fünfzig Prozent.
Meine Frau Miriam lag nach dem Notkaiserschnitt noch im Aufwachraum, voll mit Medikamenten. Und ich stand vor der Tür zur Frühchen-Intensivstation, während eine Frau in einem eleganten Hosenanzug mir den Weg blockierte.
Es war kurz nach fünf Uhr morgens, als ich ins „Städtische Klinikum Am Park“ stolperte – völlig durchnässt, noch im nassen Leder, Helm unter dem Arm. Drei Stunden hatte ich gebraucht, von einem Wochenendtreffen der Florian Riders zurück hierher. Drei Stunden im Regen auf der Autobahn, mit einem einzigen Gedanken im Kopf: Schaff es. Schaff es rechtzeitig.
Der Anruf war um halb drei gekommen.
„Herr Richter? Ihre Frau hatte Komplikationen. Wir mussten sofort operieren. Das Baby ist unterwegs. Sie sollten so schnell wie möglich kommen.“
Ich war 200 Kilometer entfernt. Mitten in der Nacht, auf einem Parkplatz an einer Landstraße, zwischen anderen alten Feuerwehrkameraden, dem Duft von Bratwurst und kaltem Kaffee.
Eine halbe Stunde später saß ich auf meiner Maschine. Kein Gedanke an Tempo, an Blitzer, an die Rückenschmerzen. Nur Regen, Autobahn und der leise Gedanke: „Bitte, haltet die beiden am Leben.“
In der Eingangshalle der Klinik fragte ich nach der Neonatologie.
„Dritter Stock, Intensivstation für Frühgeborene“, sagte die Dame am Empfang, müde, aber freundlich. „Ihre Tochter lebt. Mehr weiß ich leider nicht.“
Der Aufzug war mir zu langsam. Ich nahm die Treppe. Zwei Stufen auf einmal, Stiefel hallten im Treppenhaus, Herz klopfte schneller als früher, wenn der Melder ging.
Die Tür zur Station war verschlossen. Elektronisches Schloss, Kamera, alles, wie man es heute kennt. Eine junge Schwester sah mich durch die Scheibe, wollte gerade öffnen.
Da trat sie dazwischen.
Ich las zuerst das Namensschild: Sabine Krämer – Verwaltungsleitung.
Perfekter Blazer, streng hochgestecktes Haar, ein Tablet in der Hand wie ein Schild.
„Entschuldigen Sie, wohin wollen Sie?“, fragte sie.
„Zu meiner Tochter“, brachte ich hervor. „Frühgeburt. Sie kam vor etwa drei Stunden. Meine Frau heißt Miriam Richter.“
Ihr Blick glitt an mir herunter. Nasse Motorradstiefel. Jeans. Schwarze Lederweste mit großen Patches auf dem Rücken und an der Brust: „Florian Riders“, Feuerwehrhelm, Flammen, verschiedene kleine Abzeichen mit Einsatzdaten. Dazu ein altes Feuerwehr-Emblem, das ich noch aus meinen Berufsfeuerwehrzeiten hatte.
Frau Krämer verzog den Mund.
„Nicht so“, sagte sie kalt. „Mit dieser Weste kommen Sie hier nicht rein.“
Ich starrte sie an. „Das ist meine Einsatzweste. Jeder Patch steht für einen Einsatz, für gerettete Menschen…“
„Für mich sieht das aus wie eine Rockerkutte“, unterbrach sie mich. „Und laut Hausordnung sind Vereins- und Szenekleidung, die an Rocker- oder Problemgruppen erinnert, auf der Kinderstation verboten. Wir hatten hier schon Ärger mit aggressiven Besuchern. Das brauchen wir nicht noch einmal.“
„Wir sind ein gemeinnütziger Verein“, sagte ich. „Ehemalige Feuerwehrleute. Wir sammeln Spenden für Familien mit Brandverletzten. Das ist kein Gang.“
„Für die Eltern der anderen Kinder sieht das nicht so aus“, entgegnete sie kühl. „Bitte ziehen Sie die Weste aus oder verlassen Sie die Station.“
Durch die Glasscheibe sah ich winzige Inkubatoren. Schläuche. Monitore. Irgendwo da drin lag meine Tochter. Vielleicht am sterben. Ohne ihren Vater.
„Meine Tochter ist im Begriff zu sterben“, sagte ich leise. „Ich möchte nur ihre Hand halten.“
„Sie wird medizinisch bestens versorgt“, antwortete Frau Krämer. „Aber Sie betreten die Station nicht, solange Sie diese Weste tragen.“
In diesem Moment kam eine Ärztin um die Ecke. Weißen Kittel, müde Augen, aber ein freundliches Gesicht.
„Herr Richter?“, fragte sie vorsichtig.
Ich brauchte einen Moment, um sie wiederzuerkennen. „Frau Doktor Weber?“
Wir hatten sie vor einigen Wochen bei einer Informationsveranstaltung für werdende Eltern kennengelernt. Damals hatten Miriam und ich noch gelacht, als sie uns die winzigen Windeln gezeigt hatte.
Jetzt sah sie ernst aus.
„Ihre Tochter kämpft“, sagte sie leise. „Die Lunge ist sehr schwach. Wir müssen sie beatmen. Sie ist stabil, aber sehr kritisch. Es wäre wichtig, dass ein Elternteil bei ihr ist. Die Stimme, die Nähe, das hilft den Kleinen.“
„Er kommt hier nicht rein“, viel ihr Frau Krämer ins Wort. „Nicht in dieser Kleidung.“
Die Ärztin schaute auf meine Weste. Anders als die Verwaltungsleiterin las sie die Patches wirklich.
„Berufsfeuerwehr?“, fragte sie.
Ich nickte. „Fünfundzwanzig Jahre.“
„Und die Florian Riders?“
„Ehemalige Feuerwehrleute, Rettungskräfte, Ehrenamtliche. Wir fahren alte Maschinen, sammeln Spenden, besuchen Kinderstationen, wenn wir dürfen.“ Ich sah Frau Krämer an. „Hier dürfen wir wohl nicht.“
„Die Richtlinie für unsere Kleiderordnung“, begann die Verwaltungsleiterin, „richtet sich eindeutig gegen Rockergruppierungen und ähnliche Strukturen. Keine Kutten, keine großflächigen Patches. Das wirkt einschüchternd.“
„Diese Westen stehen für Rettungseinsätze“, sagte Dr. Weber ruhig. „Nicht für Gewalt.“
„Ich mache keine Ausnahme“, schnitt Frau Krämer ihr das Wort ab. „Eine Ausnahme heute, morgen die nächsten. Das ist eine sicherheitsrelevante Entscheidung.“
Die Ärztin presste die Lippen zusammen. „Herr Richter, ich halte Sie auf dem Laufenden. Ich muss zurück zu Ihrer Tochter.“ Sie legte kurz eine Hand auf meinen Arm. „Sie ist eine Kämpferin.“
Dann verschwand sie hinter der Tür, die für mich verschlossen blieb.
Ich setzte mich einfach auf den Boden des Flurs. Direkt vor der Tür. Die Beine wollten nicht mehr. Der ganze Nachtlauf, die Angst, der kalte Regen – jetzt fiel alles auf mich herunter.
Vielleicht stirbt meine Tochter, dachte ich. Und ich sitze hier draußen, weil jemand meine Weste mit einer Gang verwechselt.
Also griff ich zum Handy.
„Tom?“ Meine Stimme klang fremd in meinem Ohr.
„Jens? Du klingst, als wärst du aus einem Brand gekrochen. Alles okay?“
„Miriam hatte einen Notkaiserschnitt. Die Kleine liegt auf der Frühchenintensiv. Ich komme nicht zu ihr rein.“
„Was? Warum denn nicht?“
„Lange Geschichte. Hör zu: Kannst du ein paar von den Leuten erreichen? Wer noch wach ist? Klinik Am Park, dritter Stock, Neonatologie. So schnell ihr könnt.“
Tom war früher Zugführer bei der Feuerwehr, jetzt Vorsitzender der Florian Riders. „Wir sind unterwegs“, sagte er ohne zu zögern. „Und Jens? Halt durch.“
Frau Krämer beobachtete mich. „Rufen Sie jetzt Ihre Gruppe? Das macht es nicht besser.“
„Ich rufe Freunde“, erwiderte ich. „Menschen, die ihr Leben lang für andere durch Feuer gegangen sind.“
„Das hier ist ein Krankenhaus, keine Bühne für Motorradgruppen“, sagte sie knapp. „Falls hier gleich eine ganze Truppe auftaucht, informiere ich den Sicherheitsdienst.“
„Tun Sie das“, murmelte ich. „Vielleicht verstehen die mehr von Kameradschaft als Sie.“
Eine halbe Stunde später stand Miriam Mitarbeiterin mit zittriger Stimme am Telefon durch.
„Jens?“, flüsterte sie. „Wo bist du? Man sagt mir nur, dass die Kleine auf Intensiv liegt. Ich darf noch nicht hoch.“
„Ich bin schon vor ihrer Tür“, sagte ich. „Sie kämpft. Die Ärzte sind bei ihr.“
„Und du?“ Ihre Stimme brach. „Warum bist du nicht bei ihr?“
Ich sah auf meine Weste. Auf die Patches mit Einsatzdaten, auf das kleine Abzeichen „Kinderrettung 2009“, auf die gestickte Flamme.
„Die Verwaltung will, dass ich meine Weste ausziehe“, sagte ich vorsichtig. „Sie hält das für eine Art Gang-Kleidung.“
Es war kurz still am anderen Ende.
„Du hast Menschen aus brennenden Häusern geholt“, sagte Miriam schließlich, leise, aber deutlich. „Und jetzt hält man dich für eine Gefahr. Jens, bitte… unsere Tochter braucht dich.“
„Ich bin hier“, sagte ich. „Und ich bleibe hier. Notfalls vor der Tür. Aber ich verspreche dir: Ich lasse sie nicht allein.“
Etwa vierzig Minuten nach meinem Anruf kam der Erste.
Tom, 55, grauer Bart, breite Schultern. Früher Retter im Drehleiterwagen, heute Rentner mit alter BMW. Seine Weste war noch voller Patches als meine.
Kurz darauf kamen noch mehr. Petra, 50, ehemalige Notfallsanitäterin. Mehmet, 60, lange Jahre bei der Freiwilligen Feuerwehr und beim Rettungsdienst. Dann noch sieben, acht weitere. Männer und Frauen mit wettergegerbten Gesichtern, müden Augen und Westen, die von Einsätzen erzählten: Hochwasser, Verkehrsunfälle, Wohnungsbrände.
Sie stellten sich einfach in den Flur. Kein Geschrei, kein Theater. Nur Präsenz.
Frau Krämer kam mit drei Sicherheitsmitarbeitern zurück. Schwarze Poloshirts, Funkgeräte, ernste Gesichter.
„Meine Herren, meine Damen“, begann sie, „dies ist eine sensible Station. Wir dulden hier keine Gruppenaufmärsche in solcher Kleidung. Ich muss Sie bitten, das Gebäude zu verlassen.“
Tom trat einen Schritt vor. Seine Stimme war ruhig, aber fest.
„Frau Krämer, wir sind keine Schlägertruppe. Wir sind die Florian Riders. Allesamt ehemalige Einsatzkräfte. Wir haben Jahre unseres Lebens in verrauchten Treppenhäusern verbracht, auf der Autobahn, an der Seite von Rettungswagen. Jens’ Tochter liegt da drin, viel zu früh geboren. Und Sie halten ihn auf, weil Ihnen seine Weste nicht gefällt.“
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