Wir schoben die Säcke durch einen Gang, der zu hell war für einen Tag, an dem draußen Schnee fiel. Der Geruch von Desinfektion war überall, aber darunter lag etwas, das man nicht in Flaschen füllt: Müdigkeit. An den Wänden hingen Kinderzeichnungen, Sterne aus Papier, ein Adventskalender, bei dem die Hälfte der Türchen offenstand.
Auf der Station wurde Jürgens Stimme automatisch leiser. Er bewegte sich hier nicht wie ein Besucher, sondern wie jemand, der den Raum respektiert. Die Oberschwester gab Zeichen, und Jürgen wartete, bis er ein Nicken bekam, bevor er eine Tür öffnete.
Im ersten Zimmer lag ein Kind mit einem Gesicht, das zu klein war für so viel Ernst. Als Jürgen einen Plüschhasen hochhielt, passierte etwas, das mich körperlich traf. Kein lautes Jubeln, kein Film-Moment, sondern ein vorsichtiges Lächeln, das sich langsam ausbreitete, als müsste es erst wieder lernen, wie das geht.
„Für dich“, sagte Jürgen.
Das Kind streckte die Hand aus, zögerte kurz und griff dann zu, als wäre der Hase eine Rettungsleine. Es drückte ihn an sich, und ich sah im Hintergrund eine Mutter, die sich die Hand vor den Mund hielt, weil sie sonst zu viel weinen würde. In diesem Zimmer war Weihnachten kein Datum, sondern ein Gegenstand aus Stoff.
Wir gingen weiter, Zimmer für Zimmer, immer kurz, immer leise, immer respektvoll. Ein Junge wählte einen Hund, weil „Hunde mutig sind“, und Jürgen nickte, als wäre das die klügste Erkenntnis der Welt. Ein Mädchen bekam einen Teddy und flüsterte ihm sofort etwas ins Ohr, als hätte sie ihn schon lange erwartet.
Dann kamen wir zu einem Zimmer, in dem ein Teenager lag. Kopfhörer, Blick an die Decke, diese Art von Gleichgültigkeit, die man sich anzieht, wenn man Angst hat, dass Hoffnung wieder weh tut. Jürgen hielt einen schlichten braunen Bären hoch, ohne Glitzer, ohne große Augen, einfach nur weich und da.
„Ich habe einen für dich“, sagte er.
Der Junge bewegte sich kaum. „Bin zu alt für sowas“, murmelte er.
Jürgen nickte. „Das dachte mein Sohn auch“, sagte er ruhig. „Bis die Nächte wieder schwierig wurden.“
Der Teenager drehte den Kopf. Ein Kopfhörer rutschte ein Stück, und zum ersten Mal sah er Jürgen wirklich an. Sein Blick wurde schmal, wach.
„Ihr Sohn war krank?“ fragte er leise, als würde schon das Wort schmerzen.
„Er hat es nicht geschafft“, antwortete Jürgen, ohne Drama, nur Wahrheit. „Aber er hatte einen Bären. Ein Fremder hat ihm den geschenkt. Der hat ihm die Angst genommen, als ich es nicht mehr konnte.“
Es war still im Zimmer, so still, dass selbst das Piepen nicht störte. Der Junge schluckte, sah kurz weg und tat so, als sei ihm das egal, aber seine Hand bewegte sich auf der Decke, als würde sie etwas suchen.
„Und Sie kommen deshalb jedes Jahr?“ fragte er.
„Ich komme, weil ich weiß, wie sich diese Angst anfühlt“, sagte Jürgen. „Und weil ich wenigstens das zurückgeben kann.“
Der Teenager zog den zweiten Kopfhörer ab. Er atmete einmal tief aus, als müsste er sich entscheiden. Dann sagte er, fast trotzig:
„Okay. Dann geben Sie her. Aber sagen Sie niemandem, dass ich ja gesagt habe.“
Jürgen lächelte, und in diesem Lächeln lag kein Triumph. Er legte den Bären auf die Bettdecke, nicht wie eine Ware, sondern wie eine kleine Wache. Der Junge zog ihn an sich, langsam, unauffällig, als wäre das völlig normal.
Im Flur blieb ich kurz stehen, weil mir Tränen in die Augen stiegen. Ich hasste mich dafür, weil ich sonst nie weine, und gleichzeitig war es mir egal, wer ich sonst bin. Die Oberschwester legte mir eine Hand auf den Arm, nur einen Moment.
„Einfach da sein“, sagte sie leise. „Mehr brauchen viele hier nicht.“
Als wir am Stationszimmer vorbeikamen, stellte ich die Kiste Schokoriegel ab. Eine Schwester sah auf, ihre Augen waren rot vor Müdigkeit, und sie lachte kurz, heiser, als hätte jemand ihr einen winzigen Funken geschenkt.
„Sie haben keine Ahnung, was Schokolade in so einer Nacht wert ist“, sagte sie.
„Doch“, antwortete ich, und es war das erste Mal seit Jahren, dass ich dieses Wort ehrlich sagen konnte. „Ich glaube, ich begreife es.“
Später standen wir wieder draußen. Der Schnee fiel leise, und die Stadt wirkte für einen Moment weich, als hätte sie ihre Zähne eingezogen. Jürgen lehnte sich gegen seinen Kombi, rieb sich die Hände und atmete aus, als hätte er einen Sack abgestellt, den man nicht sieht.
„So“, sagte er. „Das war es.“
„Nein“, sagte ich, und meine Stimme war fester, als ich mich fühlte. „Das war nicht das Ende. Das war der Anfang von etwas.“
Er sah mich an, und in seinen müden Augen lag dieser warme Glanz, der nichts mit Lichterketten zu tun hat. „Ich habe das immer allein gemacht“, sagte er nach einer Weile. „Nicht, weil ich niemanden wollte. Sondern weil allein einfacher ist, wenn man etwas mit sich herumträgt.“
„Und heute?“ fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern, aber diesmal wirkte es leichter. „Heute war es geteilt. Und dadurch weniger schwer.“
Wir fuhren zurück durch Frankfurt, vorbei an den gläsernen Türmen, die draußen wie riesige, kalte Kerzen leuchteten. Früher hätte mich das beeindruckt, dieses Licht, diese Höhe, diese Welt aus Zahlen und Status.
Heute dachte ich nur an einen Plüschhasen in einem Krankenhausbett und an einen Teenager, der so tat, als wäre ihm alles egal, während er einen Bären festhielt, als würde er sonst fallen.
Als ich später in meiner Wohnung stand, war mir warm, ohne die Heizung höher zu drehen. Ich stellte die Schuhe ordentlich hin, nicht weil ich plötzlich ein anderer Mensch war, sondern weil ich spürte, dass kleine Dinge wieder Bedeutung haben. Draußen fiel der Schnee weiter, und in mir war es still auf eine gute Art.
Ich wusste: Nächstes Jahr würde ich nicht zufällig an Kasse drei stehen und hoffen, dass mich jemand rettet. Ich würde vorher schon wissen, wohin ich gehöre – nicht in den Zynismus, nicht in diese ewige Jagd nach „mehr“, sondern dahin, wo ein Mann mit schaufelgroßen Händen billige Stofftiere behandelt wie Porzellan.
Reich ist nicht, wer viel besitzt. Reich ist, wer die Kälte anderer nicht aushält und trotzdem nicht wegschaut.






