Er schnitzte seinen Hund – und fand damit zurück ins Leben.

Heute ist ein schwerer Tag für mich. Nach über fünfzig Jahren als Schreiner habe ich beschlossen, in den Ruhestand zu gehen. Mein Körper wird müde, meine Hände zittern manchmal, und das Augenmaß ist nicht mehr so präzise wie früher. Aber das ist nicht der wahre Grund, warum mir heute die Tränen über das Gesicht laufen.

Vor einem Monat ist mein Hund Max gestorben. Er war mein treuer Begleiter über viele Jahre hinweg – nicht nur im Alltag, sondern auch in stillen, einsamen Stunden. Heute habe ich mein letztes Werk vollendet: eine Holzskulptur von ihm. Jedes Stück Holz, jeder Schnitt, jede feine Linie trägt seine Erinnerung. Ich habe ihn nicht nur mit den Händen geschnitzt, sondern mit dem Herzen.

Es ist mein Abschied – von Max, von meiner Arbeit, und ein Stück weit auch von der Welt, wie ich sie gekannt habe.

Früher kamen die Leute voller Respekt in die Werkstatt. Sie rochen das frische Holz, bewunderten die Handarbeit, wussten, dass jede Schraube, jede Maserung mit Sorgfalt ausgewählt wurde. Heute scheint das niemanden mehr zu interessieren. Alles muss schnell, billig und makellos sein. Handwerk gilt als altmodisch, überholt, nicht mehr „effizient“.

Ich spüre, wie unsere alte Welt verschwindet. Eine Welt, in der man etwas mit eigenen Händen schuf – nicht für Likes oder Geld, sondern aus Liebe zum Material und zum Beruf. In der ein Stuhl nicht nur zum Sitzen da war, sondern Geschichten erzählte.

Ich bin traurig, ja. Traurig, weil es kaum noch junge Menschen gibt, die diesen Weg gehen wollen. Traurig, weil man mit Holz keine Aufmerksamkeit mehr bekommt. Traurig, weil Max nicht mehr bellt, wenn ich morgens die Tür aufschließe.

Aber ich bin auch dankbar.

Dankbar für die Jahrzehnte, in denen ich tun durfte, was ich liebte. Dankbar für jeden Splitter, jede Schwiele, jeden Sonnenstrahl, der durch das Werkstattfenster fiel. Und dankbar, dass ich Max – zumindest so – noch ein letztes Mal nach Hause holen durfte.

Dies ist mein letztes Werk. Es wird nicht verkauft, nicht ausgestellt. Es bleibt hier – bei mir. In dieser Werkstatt, die bald still sein wird.

Aber das Echo der Hobel, das Knarzen des Holzes, Max’ Pfoten auf dem Boden – sie bleiben in meinem Herzen.

Für immer.

Eine Woche ist vergangen, seit ich die Skulptur von Max fertiggestellt habe. Ich gehe nicht mehr täglich in die Werkstatt, aber manchmal zieht es mich hin – nicht um zu arbeiten, sondern um einfach da zu sein. Um zu hören, ob das Holz noch atmet. Um Max vielleicht noch einmal zu spüren.

Heute war einer dieser Tage.

Ich saß auf dem alten Hocker neben dem Fenster, die Hände verschränkt, den Blick auf das Holzgerichtet, das ich all die Jahre so gut kannte. Die Statue von Max stand auf der Werkbank, ihr Schatten fiel lang auf den Boden. Für einen Moment dachte ich, er sei wieder da – lebendig, wachsam, mit diesem ruhigen Blick, der mehr verstand als Worte.

Da klopfte es an die Tür.

Ein junger Mann, vielleicht Anfang zwanzig, stand draußen. Unsicher, mit einem Stuhl in der Hand, dessen Beine wackelten wie die Knie eines nervösen Kindes.

„Sind Sie der Schreiner, der früher hier gearbeitet hat?“, fragte er.

Ich nickte.

„Mein Opa hat mal gesagt, dass Sie der Einzige waren, dem er seinen Lieblingsstuhl anvertraut hätte. Er ist jetzt gestorben. Ich wollte fragen, ob Sie vielleicht… ob Sie ihn reparieren könnten. Den Stuhl, meine ich.“

Ich sagte nichts. Sah nur auf den Stuhl – alt, gut gemacht, aber vom Leben gezeichnet. Wie ich.

„Ich weiß, Sie sind im Ruhestand“, sagte er schnell. „Es ist nur… ich wollte ihn behalten. Als Erinnerung. Aber keiner will sich die Mühe machen. Alle sagen, es lohnt sich nicht.“

Ich streckte die Hand aus und nahm den Stuhl. Nicht aus Pflicht. Nicht aus Nostalgie. Sondern weil Max – oder das, was von ihm in dieser Werkstatt geblieben war – mir ins Herz flüsterte: Tu es.

In den nächsten Tagen arbeitete ich leise, langsam, wie früher. Die Maserung des Holzes sprach mit mir, und ich hörte zu. Ich verzichtete auf Maschinen. Nur die alten Werkzeuge, meine Hände und die Erinnerung an Max begleiteten mich. Oft glaubte ich, sein Schwanz schlage irgendwo in der Ecke leise auf den Boden.

Eine Woche später kam der Junge zurück.

Ich überreichte ihm den reparierten Stuhl, ohne viel zu sagen.

Er setzte sich, testete das Gleichgewicht, dann sah er mich an – und schwieg kurz.

„So was habe ich noch nie gesehen“, sagte er schließlich. „Man spürt, dass Sie… dass hier mehr drinsteckt als nur Holz.“

Ich lächelte. Zum ersten Mal seit Langem.

Er fragte, was er schuldig sei. Ich winkte ab. Manche Dinge haben keinen Preis.

Als er ging, blieb ich noch lange an der Tür stehen.

Die Statue von Max schaute nach draußen, als würde sie warten. Und ich dachte, vielleicht – nur vielleicht – war das nicht mein letzter Auftrag.

Am Abend hängte ich ein kleines Schild an die Tür.

Nicht groß. Nicht auffällig.

Nur ein paar schlichte Worte, geschnitzt in Eiche:

„Kein Laden. Nur Geschichten. Komm, wenn du Holz magst.“

Es war ein regnerischer Mittwochmorgen, als ich sie das erste Mal sah.

Eine junge Frau, Anfang dreißig vielleicht, stand mit einem kleinen Mädchen vor meiner Tür. Das Mädchen hielt etwas in den Armen, in ein altes Tuch gewickelt, das schon ganz durchweicht war vom Regen.

„Entschuldigen Sie…“, sagte die Frau vorsichtig, „…wir haben gehört, Sie können Dinge aus Holz reparieren.“

Ich trat einen Schritt nach vorn. Das Mädchen löste das Tuch, und zum Vorschein kam eine kleine Spieluhr – aus hellem Birkenholz, mit abgegriffenen Kanten und einer gebrochenen Klappe. Ich erkannte die Form sofort. Solche Stücke machte man vor sechzig, siebzig Jahren. Handgedrechselt, zart bemalt, oft ein Hochzeitsgeschenk.

„Sie gehörte meiner Großmutter“, sagte die Frau. „Sie hat sie meiner Mutter vererbt. Und sie mir, als sie starb. Seit gestern spielt sie nicht mehr.“

Ich nahm die Spieluhr vorsichtig in die Hände. Sie war warm vom Körper des Mädchens, das sie wie einen Schatz getragen hatte. Ich sah in die Augen des Kindes. Da war dieselbe Stille wie früher bei Max, wenn er spürte, dass etwas wichtig war.

„Ich werde sehen, was ich tun kann“, sagte ich.

In der Werkstatt setzte ich mich an meinen alten Tisch, stellte die Spieluhr auf das weiche Tuch, das ich sonst für feines Schnitzwerk nutzte. Der Regen klopfte leise gegen die Scheiben, und für einen Moment war es, als arbeiteten wir zu zweit – ich und das leise Echo vergangener Zeiten.

Es war kein großer Schaden. Nur ein gebrochener Mechanismus, ein verzogener Deckel, eine Schraube, die nicht mehr griff. Ich richtete es aus, ölte das Holz, polierte die Oberfläche. Dann schnitzte ich hinten, ganz klein, fast unsichtbar, eine Zeile ein:

„Die Zeit vergeht. Die Liebe bleibt.“

Am Abend holten sie die Spieluhr ab.

Ich drehte sie kurz auf, und als die Melodie erklang – schwach, aber klar –, hielt das Mädchen sie ans Ohr und schloss die Augen. Die Frau hatte Tränen in den Augen.

„Was schulden wir Ihnen?“, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf.

„Nur, dass Sie sie weiterreichen. Irgendwann.“

Sie gingen, Hand in Hand, die Spieluhr zwischen ihnen wie ein Herzschlag.

Nachdem sie verschwunden waren, setzte ich mich vor die Tür. Max’ Statue stand wie immer an ihrem Platz, mit Blick nach draußen.

Der Regen hatte aufgehört.

Ich lauschte – nicht nach Stimmen, nicht nach Maschinen, sondern nach dem Holz.

Und ich schwor, ich hörte es atmen.

Es war ein kalter Morgen im Februar, als ich die erste feine Risslinie bemerkte.

Sie zog sich durch die Schulter der Max-Skulptur – kaum sichtbar, aber ich sah sie sofort. Wie eine Falte im Gesicht eines alten Freundes. Ich legte die Hand darauf, und das Holz fühlte sich spröder an als sonst. Es war trocken, brüchig. Müde.

So wie ich.

Ich hätte den Riss ignorieren können. Die Statue stand draußen, Wind und Wetter ausgesetzt. Es war nur eine Frage der Zeit. Doch irgendetwas in mir regte sich. Etwas, das sagte: Max hätte das nicht gewollt. Nicht so.

Ich ging in den hinteren Teil der Werkstatt, dorthin, wo ich früher mein bestes Holz aufbewahrte. Ganz hinten, hinter alten Latten und verstaubten Kisten, lag noch ein Stück Nussbaum – schwer, dunkel, lebendig. Ich hatte es vor über dreißig Jahren beiseitegelegt, „für etwas Besonderes“, sagte ich damals. Ich wusste nur nicht, dass es Max sein würde.

Ich hob das Holz hoch. Es war, als hätte es gewartet.

Die nächsten Tage arbeitete ich schweigend. Ich sprach nicht. Ich aß wenig. Ich schlief kaum. Ich arbeitete nicht mit Werkzeugen, sondern mit Erinnerungen.

Ich schnitzte nicht einfach einen Hund.

Ich schnitzte den Moment, als Max zum ersten Mal in die Werkstatt tappte, noch jung und unbeholfen. Ich schnitzte den Blick, den er mir zuwarf, wenn er wusste, dass ich traurig war. Ich schnitzte die Art, wie er seinen Kopf schräg legte, wenn er das Kreischen der Säge hörte. Ich schnitzte sein Schweigen – und sein Verstehen.

Es war mein letztes großes Werk. Mein Abschied. Aber es fühlte sich nicht wie ein Ende an.

Als ich fertig war, war Max größer als zuvor – nicht nur in der Statur, sondern im Ausdruck. Er stand nicht mehr nur da. Er wachte. Er beschützte. Er sah dich an, als wollte er fragen: Wirst du gut mit dieser Welt umgehen?

Ich stellte ihn vor die Tür, an den alten Pfeiler der Werkstatt. Dort, wo früher der Briefkasten hing. Ich legte meine Hand auf seinen Kopf – glatt, warm vom Nachmittagssonnenlicht.

Und zum ersten Mal seit Langem sprach ich laut:

„Willkommen daheim, mein Junge.“

An diesem Abend brannte noch lange Licht in der Werkstatt.

Nicht weil ich arbeitete – sondern weil Max da war.

Wieder.

Es war ein stiller Sonntagmorgen, als ich den letzten Brief schrieb.

Nicht mit der Maschine, nicht mit dem Handy – sondern mit einem alten Füllfederhalter, auf vergilbtem Papier, das ich in einer Schublade fand. Meine Handschrift war zittriger als früher. Aber jedes Wort saß. So wie die Nägel, die ich jahrzehntelang in das Holz getrieben hatte – mit Bedacht, mit Gefühl.

Der Brief war nicht für jemand Bestimmten.

Er war für den Nächsten.

Vielleicht ein Junge, der neugierig an der Tür klopft. Vielleicht ein Mädchen, das wissen will, wie sich Holz anfühlt, wenn es lebt. Vielleicht jemand, der verloren ist und nur einen Ort sucht, an dem man noch zuhört.

Ich schrieb über Max.

Über seine Augen. Sein Schweigen. Seine Treue.
Über das, was er mir gab, als alle anderen gingen.

Ich schrieb über die Werkstatt.

Über das erste Werkzeug, das ich von meinem Vater erbte. Über das Licht, das immer durch dasselbe Fenster fiel. Über die Späne auf dem Boden – nicht als Abfall, sondern als Beweis, dass etwas entstand.

Ich schrieb über das Handwerk.

Nicht als Beruf. Sondern als Haltung.
Als leises Versprechen: Ich mache das, was ich tue, mit Herz.

Zum Schluss legte ich dem Brief einen kleinen Holzspan bei – glatt, duftend, warm. Nussbaum, vom letzten Werk.

Ich schloss den Umschlag und legte ihn in die unterste Schublade meines Werktisches.

Dann räumte ich auf. Nicht viel – nur genug, dass man den Raum noch atmen hören konnte. Ich deckte Max’ Statue mit einer Plane zu. Nicht um ihn zu verstecken, sondern um ihn zu schützen. So wie er mich so oft geschützt hatte – vor Einsamkeit, vor Lärm, vor mir selbst.

Als ich die Werkstatttür schloss, schaute ich mich ein letztes Mal um.

Nicht mit Wehmut. Sondern mit Dank.

Ich wusste, ich komme nicht mehr oft hierher. Vielleicht gar nicht. Mein Körper ist müde. Mein Herz… nicht traurig, aber voll.

An der Tür hängte ich ein neues Schild auf. Klein, aus Eiche, von Hand beschriftet:

„Offen für die, die zuhören können.“

Und dann ging ich.

Langsam, Schritt für Schritt.

Hinter mir klapperte das alte Windspiel. Ein Vogel sang. Der Staub tanzte im Licht.

Und in der Ferne – ganz leise – hörte ich ihn.
Ein Bellen. Nur einmal.

Aber ich wusste:
Er war noch da.

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