Er warf mich ohne Geld aus dem Auto und die blinde Frau neben mir lächelte

Das Tor glitt lautlos auseinander, als würde es uns nicht begrüßen, sondern kontrollieren.

Die Limousine rollte hinein, so sanft, dass mein Magen nicht mitbekam, dass wir eine Grenze überschritten hatten. Hinter dem Zaun lag kein „Zuhause“. Kein Garten, der nach Sommer roch. Keine Lichterketten, kein Vogelhaus, keine Spuren von Kindern oder Hunden.

Nur Ordnung.

Eine breite Auffahrt, ein Rasen, der aussah, als hätte ihn jemand mit einem Lineal geschnitten, und dahinter ein Haus aus dunklem Stein. Groß. Kantig. Mehr Schutzbau als Wohnraum. Auf den Ecken glitzerten kleine Kameras. Nicht auffällig – eher so, als wollte man gar nicht erst diskutieren, ob man beobachtet wird.

Ich saß still da und merkte, wie meine Hände sich ineinander krallten.

„Du musst nicht zittern“, sagte die Frau neben mir. Ihre Stimme war ruhig, fast müde. „Du bist jetzt nicht mehr am Rand der Straße.“

Das sollte trösten. Stattdessen ließ es mich frösteln.

Der Wagen hielt. Dario stieg aus, öffnete zuerst ihre Tür, dann meine. Er machte dabei keine unnötigen Bewegungen. Alles an ihm war Training, Routine, Abstand.

„Frau von Eichen“, sagte er. „Gibt es Anweisungen?“

„Du bist frei“, antwortete sie. „Ich rufe, wenn ich dich brauche.“

Er nickte, als hätte er es erwartet, und ging zurück zum Wagen. Keine Frage, wer ich war. Kein Blick, der hängen blieb. Als wäre ich tatsächlich die Enkelin, die einfach dazugehört. Oder als wäre es ihm egal.

Wir standen vor der Haustür. Sie war schwer, dunkel, ohne Ornament. Die Frau – Frau von Eichen, wie der Fahrer sie nannte – legte die Hand kurz auf den Griff, als prüfe sie etwas.

„Komm“, sagte sie.

Innen war es noch stiller als draußen. Die Luft roch nicht nach Essen, nicht nach Parfüm, nicht nach Leben. Eher nach Holzpolitur und etwas Metallischem, wie in einem Raum, der selten genutzt wird, obwohl er täglich betreten wird.

Ein großer Flur. Hohe Decke. Teure, strenge Möbel. Keine Familienbilder. Keine gerahmten Erinnerungen. An den Wänden hing Kunst, aber sie wirkte wie ausgesucht, um niemandem zu nahe zu kommen.

Ich blieb stehen, unsicher, ob ich die Schuhe ausziehen sollte. Es gab keinen Teppich, der mir die Entscheidung abnahm.

„Setz dich“, sagte sie und deutete mit ihrem Stock – der plötzlich nicht mehr wie ein Hilfsmittel wirkte, sondern wie ein Zeigestab.

Ich setzte mich auf die Kante eines Sofas, das so fest war, dass es mich nicht auffing. Mein Blick wanderte. Alles war sauber. Zu sauber. Als würde Schmutz hier nicht nur unerwünscht sein, sondern unmöglich.

Sie blieb stehen. Mehrere Sekunden. Dann tat sie etwas, womit ich nicht gerechnet hatte.

Sie nahm die dunkle Sonnenbrille ab.

Ihre Augen waren nicht trüb. Nicht leer. Nicht tastend.

Sie waren klar. Scharf. Wach.

Und sie sahen mich an, als wäre ich eine Akte, die man endlich geöffnet hat.

„Du heißt Katharina Seidel“, sagte sie. Kein Fragen, kein Zögern. „Du bist achtunddreißig. Du arbeitest im Verwaltungsbereich eines großen Werkbetriebs, im Planungs- und Ablauforganisationsbüro. Dein Mann heißt Marcus Seidel. Zweiundvierzig.“

Mein Körper blieb auf dem Sofa, aber innerlich stand ich auf und stolperte rückwärts.

„Woher…?“ Meine Stimme versagte.

Sie ging zum Sideboard, goss sich ein Glas Wasser ein, goss mir eins ein und stellte es ohne Eile vor mich hin.

„Trink“, sagte sie. „Du brauchst gleich einen klaren Kopf.“

Ich nahm das Glas. Es klirrte leicht, weil meine Finger nicht aufhörten zu beben.

„Wer sind Sie?“ fragte ich. „Und warum… diese Brille?“

Sie setzte sich in einen Sessel gegenüber, so selbstverständlich, als hätte sie schon entschieden, wie das Gespräch laufen würde.

„Weil Menschen anders sprechen, wenn sie glauben, niemand sieht sie richtig“, sagte sie. „Und weil ich gerne höre, was sie aus Versehen verraten.“

Ich schluckte Wasser. Es schmeckte nach nichts. Trotzdem half es.

„Du bist heute an dieser Haltestelle nicht zufällig gelandet“, sagte sie. „Und ich war nicht zufällig dort.“

Mir wurde heiß. „Sie haben… gewusst?“

„Ich habe beobachtet.“ Sie hob eine Augenbraue. „Das ist ein Unterschied.“

Sie legte die Brille neben sich, faltete die Hände und sah mich an, als würde sie mir einen Vertrag vorlesen, der längst unterschrieben ist.

„Marcus Seidel ist ehrgeizig. Nicht ungewöhnlich. Was ungewöhnlich ist: Er ist dabei bereit, alles zu opfern, was ihn nicht direkt nach oben zieht.“

Ich zuckte zusammen, als hätte sie ihn gerade vor mir ausgezogen.

„Er hat Schulden“, fuhr sie fort. „Mehr, als du gerade glaubst. Und er sucht einen Ausweg, der nicht nach Arbeit aussieht.“

„Sie kennen ihn“, flüsterte ich.

Sie lächelte nicht. „Ich kenne viele Menschen. Manche sind mir egal. Manche sind mir nützlich. Und manche sind mir lange im Gedächtnis geblieben.“

Sie machte eine kleine Pause. Nicht dramatisch. Eher, als würde sie prüfen, ob ich noch zuhöre oder schon weglaufe.

„Du hast etwas, das er will“, sagte sie. „Etwas, das nicht ihm gehört.“

Mein Hals wurde trocken. „Die Wohnung.“

„Die Wohnung.“ Sie nickte. „Dein Elternhaus. Dein einziger fester Boden.“

Ich senkte den Blick. In meinem Kopf tauchten Bilder auf: die Küche mit den alten Kacheln, der Geruch von Apfelkuchen, das knarrende Parkett im Flur. Dinge, die man erst spürt, wenn man sie verliert.

„Er wird sie dir nehmen“, sagte sie ruhig. „Nicht später. Bald.“

Ich sah hoch, als hätte sie mir gerade eine Uhrzeit genannt.

„Er kann das nicht“, flüsterte ich. „Das ist mein Eigentum.“

„Er kann vieles nicht“, sagte sie. „Und dennoch tun es Menschen. Weil sie glauben, es merkt niemand. Oder weil sie glauben, sie kommen damit durch.“

Ich spürte einen Druck hinter den Augen. Tränen, die schon wieder wollten.

Sie hob sofort die Hand.

„Nicht.“ Das Wort war kurz. „Du hast genug geweint. Das war am Straßenrand. Hier wird gedacht.“

Ich biss mir auf die Lippe, so fest, dass es weh tat. Der Schmerz war besser als das Zittern.

„Was wollen Sie?“ fragte ich.

Die Frage kam aus mir heraus, bevor ich sie filtern konnte. Ich wusste nicht, ob ich dankbar sein sollte oder misstrauisch. Beides war wie zwei Hände an meiner Kehle.

Sie sah mich an, lange. Dann sagte sie:

„Ich helfe dir.“

Ein Satz. Klar. Ohne Wärme.

„Ich gebe dir, was du brauchst. Kleidung. Ein Telefon. Menschen, die wissen, wie man Formalitäten bewegt.“ Sie machte eine kleine Handbewegung, als wäre das alles eine Einkaufsliste.

„Und ich sorge dafür, dass du nicht alleine stehst, wenn er versucht, dich zu überrollen.“

Mein Atem ging schneller.

„Warum?“ fragte ich heiser.

Sie lehnte sich minimal vor.

„Weil du heute etwas gezeigt hast“, sagte sie. „Nicht Stärke. Noch nicht. Aber einen Punkt. Einen Moment, in dem du gemerkt hast, dass es so nicht weitergeht.“

Ich verstand nicht. Oder ich wollte nicht verstehen.

„Und weil ich nichts verschenke“, fügte sie hinzu.

Da war es. Der Preis, der immer kommt, wenn etwas zu glatt klingt.

„Was… kostet es?“ flüsterte ich.

Sie stand auf. Ging zu einem Schreibtisch, der in einer Nische stand, als hätte man ihn dort platziert, um Entscheidungen zu unterschreiben, nicht um Briefe zu schreiben. Sie öffnete eine Schublade und holte eine kleine Schachtel heraus. Legte sie vor mich auf den niedrigen Tisch.

Ich starrte sie an. „Was ist das?“

„Mach auf.“

Meine Finger zitterten, als ich den Deckel hob. Darin lag ein neues Handy, noch eingeschweißt. Daneben eine kleine Karte mit zwei Nummern, handschriftlich.

Sie tippte mit dem Stock darauf.

„Das ist deine neue Nummer. Sauber. Niemand kennt sie.“ Sie sah mich direkt an. „Du rufst ab jetzt niemanden an, der dir nur Probleme bringt. Du rufst nur diese zwei Nummern an.“

Ich hielt den Atem an. „Und wer sind sie?“

„Ich.“ Sie tippte auf die erste. „Und mein Anwalt.“ Sie tippte auf die zweite.

„Anwalt?“ Meine Stimme war kaum hörbar.

„Ja.“ Sie sagte es, als wäre es selbstverständlich, dass ein Anwalt zu einem Nachmittag gehört wie Kaffee.

„Du wirst sehr bald etwas brauchen, das stärker ist als dein Gefühl für Recht.“

Ich schluckte.

Sie setzte sich wieder, genau gegenüber, als wäre sie mein Spiegel, nur ohne jede Unsicherheit.

„Du wirst mir etwas schulden“, sagte sie. „Nenn es Hilfe. Nenn es Schuld. Nenn es, wie du willst. Aber es ist nicht gratis.“

Ich starrte auf die Schachtel, auf das glatte Plastik, auf den handschriftlichen Zettel. Mein Magen zog sich zusammen.

„Und wenn ich nein sage?“ fragte ich.

Sie zuckte kaum merklich mit den Schultern.

„Dann bringe ich dich zurück zur Haltestelle.“ Ihre Stimme blieb ruhig. „Du kannst laufen. Du kannst hoffen, dass jemand anhält. Du kannst nach Hause kommen und so tun, als wäre heute ein Streit gewesen.“

Sie hob die Sonnenbrille an, drehte sie in der Hand.

„Oder du kannst jetzt verstehen, dass dein Mann nicht gestritten hat. Er hat getestet.“

Das Wort traf mich wie eine offene Hand.

Getestet.

Ich sah plötzlich wieder den Moment, wie er nicht einmal den Motor ausmachte. Wie er mich ansah, nicht traurig, nicht wütend – eher neugierig. Als wollte er sehen, wie ich aussehe, wenn alles weg ist.

Mein Hals schnürte sich zu.

„Was muss ich tun?“ fragte ich leise.

Sie lächelte nicht. Aber etwas an ihrem Blick wurde zufrieden. Nicht freundlich – eher bestätigend.

„Du tust erst einmal genau das, was ich sage“, antwortete sie. „Und du lernst schnell.“

Ich nickte. Es ging nicht um Mut. Es ging um Überleben.

„Gut.“ Sie drückte auf eine Taste an einem kleinen Gerät, das auf dem Tisch lag.

Eine Minute später öffnete sich lautlos eine Tür. Eine Frau trat ein, streng gekleidet, graues Kleid, Haare ordentlich, Blick neutral. Kein Lächeln, keine Neugier. Eher wie jemand, der in einem Haus arbeitet, in dem Gefühle als Störung gelten.

„Esther“, sagte Frau von Eichen. „Zeig Katharina das Gästezimmer. Dusche, Kleidung, alles Nötige. Und bring uns später etwas zu essen. Nichts Aufwendiges.“

Esther nickte. „Bitte folgen Sie mir.“

Ich stand auf. Meine Beine fühlten sich an, als hätten sie eine Nacht durchgemacht.

Das Gästezimmer war groß, aber genauso unpersönlich wie der Flur. Weißes Bett, schwere Vorhänge, ein Schrank, der leer wirkte, als würde man ihn nie benutzen. Im Bad standen neue Flaschen – Shampoo, Duschgel, Zahnbürste. Alles bereitgelegt, als hätte man mich erwartet.

Auf dem Bett lagen Sachen: dunkle Hose, ein schlichter Pullover, Wäsche. Teuer, aber ohne Charakter. Wie eine Uniform für ein neues Leben.

Unter der Dusche lief warmes Wasser über mich. Ich merkte erst da, wie kalt ich gewesen war. Nicht nur außen. Innen.

Als ich mich anzog, sah ich im Spiegel eine Frau, die mir ähnlich sah und doch nicht mehr dieselbe war. Die Augen waren gerötet, ja. Aber da war auch etwas anderes. Eine Linie im Blick, die vorher nicht da gewesen war.

Als ich zurück in den Wohnbereich ging, war der Tisch gedeckt: Hähnchen, Salat, Brot. Schlicht. Genau so, wie sie es gesagt hatte.

Und da saß noch jemand.

Ein Mann um die fünfzig, in einem dunklen Anzug, dünne Brille, Gesicht ohne Lächeln. Er stand nicht auf, als ich eintrat. Er schaute nur kurz hoch, als würde er prüfen, ob ich die richtige Person bin.

„Setz dich“, sagte Frau von Eichen.

Ich setzte mich.

„Das ist Herr Kramer“, sagte sie. „Mein Anwalt.“

Der Mann nickte knapp. Sein Blick war trocken, sachlich, ohne jede Theaterlust.

„Frau Seidel“, begann er, „Ihr Mann hat heute etwas getan, das man moralisch vieles nennen kann. Juristisch ist es schwieriger. Ohne Zeugen wird er behaupten, Sie seien freiwillig ausgestiegen.“

Ich öffnete den Mund, aber er hob die Hand, ohne unhöflich zu wirken.

„Das ist nur der Anfang“, sagte er. „Wichtiger ist Ihr Eigentum. Die Wohnung, die Sie geerbt haben. Das ist grundsätzlich Ihr persönlicher Besitz.“

„Grundsätzlich?“ flüsterte ich.

Er sah mich an, als würde er mir erklären, dass grundsätzlich nicht gleich sicher ist.

„Grundsätzlich.“ Er legte die Fingerspitzen zusammen. „Und genau deshalb müssen wir davon ausgehen, dass er versucht, es so aussehen zu lassen, als hätten Sie es freiwillig abgegeben.“

Mir rutschte das Herz in den Bauch.

„Wie…?“ begann ich.

Frau von Eichen stellte ihr Wasserglas ab. Der Ton ihrer Stimme war ruhig, aber endgültig.

„Du gehst nach Hause“, sagte sie.

Ich starrte sie an. „Nach… Hause?“

„Ja.“ Sie beugte sich leicht vor. „Du wirst sehen, was er getan hat. Nicht aus Mut. Aus Klarheit.“

„Und du wirst begreifen, dass dein Problem nicht nur ein Streit ist. Es ist ein Plan.“

Sie stand auf, als wäre das Gespräch damit abgeschlossen.

„Dario bringt dich.“ Sie sah mir direkt in die Augen. „Und du rufst nur eine Nummer an, wenn etwas passiert: Herrn Kramer.“

Ich saß da, das neue Handy vor mir, das Herz gegen die Rippen schlagend.

Ein Teil von mir wollte schreien, dass das alles unmöglich ist.

Der andere Teil wusste: Wenn ich jetzt nicht gehe, wird der Rest meines Lebens in dieser Festung beginnen und ich würde niemals erfahren, welche Tür Marcus mir bereits zugeschlagen hatte.

Ich nahm das Handy, als wäre es ein Stück Gewicht, das mich auf dem Boden hält.

Und ich nickte.

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