Er warf mich ohne Geld aus dem Auto und die blinde Frau neben mir lächelte

Am nächsten Morgen schmeckte der Kaffee nach Metall, obwohl er wahrscheinlich ganz normal war.

Ich saß am Rand des Gästezimmers, die Hände um die Tasse gelegt, und starrte auf die Wand, als könnte ich dort eine Anleitung lesen: So reparierst du ein Leben, das jemand anderes auseinandergebaut hat.

Esther klopfte nicht. Sie stand plötzlich in der Tür, als hätte sie gelernt, dass Geräusche in diesem Haus nur stören.

„Frau von Eichen erwartet Sie“, sagte sie.

Ich folgte ihr durch den Flur, in dem alles nach poliertem Holz roch. Nicht nach Zuhause. Nach Ordnung.

Im Wohnzimmer saß Frau von Eichen bereits angezogen, geschniegelt, als wäre der Morgen für sie kein Übergang, sondern eine Schicht.

Herr Kramer stand am Fenster und blätterte in einem Stapel Papier.

„Setzen Sie sich, Katharina“, sagte Frau von Eichen.

Ich setzte mich diesmal. Nicht weil ich mich sicher fühlte, sondern weil ich nicht mehr zeigen wollte, wie instabil meine Beine waren.

„Wir müssen uns an Fakten halten“, begann Kramer, ohne Einleitung. „Der Vertrag wirkt auffällig, aber ohne Originale und ohne Gutachten kommen wir kurzfristig nicht weit.“

Ich nickte. „Und Marcus hat Zeit. Ich nicht.“

Frau von Eichen hob eine Augenbraue. „Warum nicht?“

Ich schluckte. „Weil er nicht nur die Wohnung will. Er will, dass ich… verschwinde. Dass ich unglaubwürdig bin. Er hat schon angefangen.“

Kramer schob ein Blatt über den Tisch. „Sie müssen damit rechnen, dass er weitere Behauptungen streut. Und dass er versucht, Sie zu provozieren.“

„Er braucht nur, dass ich einmal die Fassung verliere“, sagte ich leise. „Ein Video. Ein Zeuge. Irgendwas.“

Frau von Eichen sah mich an, als prüfe sie, ob ich den Satz wirklich verstanden habe.

„Gut“, sagte sie. „Dann verlieren Sie sie nicht.“

Sie griff in eine Schublade ihres Schreibtischs und legte mir etwas hin: ein kleines, unauffälliges Diktiergerät. Es sah aus wie ein Schlüsselanhänger.

„Das ist kein Spielzeug“, sagte sie. „Sie tragen es bei sich. Ab heute.“

Ich starrte darauf. „Ich darf niemanden heimlich aufnehmen.“

Kramer hob die Hand. „Sie müssen vorsichtig sein. Rechtlich kann das heikel sein. Aber Sie können sich schützen, indem Sie Gespräche vermeiden und alles über Anwälte laufen lassen.“

Frau von Eichen lächelte dünn. „Und indem Sie nicht mehr naiv sind.“

Es war keine Beleidigung. Es war eine Diagnose.

„Was ist der nächste Schritt?“ fragte ich.

Kramer schob den Stuhl zurück. „Zwei Spuren: Erstens müssen wir die Eigentumskette der Wohnung sauber rekonstruieren – Erbe, Eintrag, jede Station. Zweitens brauchen wir Originalunterlagen, die nicht einfach ‘aufgetaucht’ sind, sondern nachvollziehbar sind.“

„Originale“, wiederholte ich. Und da war es plötzlich, dieses Bild, das wie ein Blitz durch meinen Kopf fuhr.

Ein blaues Heft.

Nicht wirklich ein Heft – eher eine dicke Mappe aus blauem Karton, abgewetzt an den Ecken, die mein Vater immer „das Wichtige“ nannte.

Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug.

„Ich glaube… ich weiß, wo die Originale sind“, sagte ich.

Kramer sah sofort auf. Frau von Eichen ebenso. In diesem Raum bedeutete ein Satz wie dieser: Bewegung.

„Wo?“ fragte Kramer.

„In der Wochenendhütte meiner Eltern“, sagte ich. „Im Wald. Nicht weit von hier. Mein Vater hat dort immer die wichtigsten Dokumente gelagert, weil er meinte, in der Stadt kann alles verschwinden.“

Frau von Eichen legte den Kopf leicht schief. „Hat Marcus davon gewusst?“

„Er hat die Hütte gehasst“, sagte ich. „Er hat sie immer ‘Schuppen’ genannt. Er wollte da nie hin. Er fand es… peinlich.“

„Gut“, sagte sie. „Dann gehen Sie hin.“

Kramer runzelte die Stirn. „Das ist riskant. Wenn Marcus ahnt, dass sie dort etwas holen—“

„Er darf es nicht ahnen“, sagte Frau von Eichen ruhig.

Sie drückte eine Taste. Esther erschien, wie immer lautlos.

„Dario soll den Wagen bereitmachen“, sagte Frau von Eichen. „Katharina fährt. Unauffällig. Keine Zeit verlieren.“

Kramer atmete aus, als würde er sich innerlich sortieren. „Nehmen Sie nichts aus der Wohnung, was nach ‘Beweis’ aussieht. Nur die Originale. Und fotografieren Sie alles, bevor Sie es anrühren. Damit man später nachvollziehen kann, wo es lag.“

„Ja“, sagte ich.

Ich wusste nicht, ob ich Angst hatte oder Erleichterung. Wahrscheinlich beides.

Eine Stunde später fuhr ich mit Dario durch grauen Vormittagsverkehr. Er sagte wieder kein Wort. Ich war dankbar dafür.

Je weiter wir aus der Stadt kamen, desto mehr veränderte sich die Luft. Weniger Abgase, mehr feuchte Erde. Bäume, Felder, ein Himmel, der aussah wie nasse Wolle.

Dario hielt an einer kleinen Straße, die in ein älteres Siedlungsgebiet führte. „Zwei Stunden“, sagte er knapp. „Ich warte hier. Wenn Sie nicht zurück sind, fahre ich.“

Ich nickte. Ich hatte gelernt, dass in Frau von Eichens Welt Zeit nicht verhandelt wird.

Der Weg zur Hütte war schmal. Das Laub lag nass auf dem Boden. Meine Schuhe rutschten einmal, und ich fluchte leise, nicht weil es weh tat, sondern weil mich jeder Fehler nervte.

Das Grundstück tauchte zwischen den Bäumen auf. Ein niedriger Zaun, schief. Ein Tor mit rostigem Schloss.

Ich tastete nach dem Schlüssel, den ich seit Jahren nicht mehr benutzt hatte. Er war schwerer, als ich ihn in Erinnerung hatte. Oder meine Hand war leichter.

Das Schloss klemmte. Ich musste drehen, drücken, ziehen. Schließlich gab es nach.

Ich schob das Tor auf. Es quietschte, als würde es mich warnen.

Die Hütte stand da wie ein altes Tier, das sich in den Wald zurückgezogen hat. Holz, verwittert. Fenster, staubig. Kein Strom. Kein Komfort. Aber… mein Ursprung.

Die Tür war abgeschlossen. Natürlich. Ich ging ums Haus, suchte nach dem kleinen Fenster neben der Küche, das mein Vater immer „die Schwachstelle“ genannt hatte.

Ich drückte. Es gab nach, weil der Rahmen alt war. Das Holz knarrte, aber es hielt.

Ich kletterte hinein, spürte den Geruch: Staub, altes Holz, ein Hauch von Kaminruß, als würde meine Kindheit irgendwo im Raum noch atmen.

Ich nahm das neue Handy, schaltete die Taschenlampe an. Der Lichtkegel schnitt durch die Dunkelheit.

Der Wohnraum war genauso, wie ich ihn erinnerte: der Tisch, der zu klein war, wenn wir alle da saßen; das Regal mit Büchern, die keiner mehr las; die Decke auf dem Sofa, die immer nach Waschmittel roch, egal wie alt sie war.

Ich ging in das kleine Arbeitszimmer meines Vaters. Der Schreibtisch stand noch da. Kratzer an der Kante. Ein eingeritztes „K“ von mir, als ich neun war.

Unten, der schwere, breite Schubkasten. Ich zog ihn auf. Zeitungen, alte Rechnungen, ein paar Werkzeuge.

Dann: die blaue Mappe.

Mein Atem blieb kurz hängen.

Ich zog sie heraus, legte sie auf den Tisch und öffnete sie mit zitternden Fingern.

Da waren sie.

Die Erbunterlagen. Alte Bescheide. Ein Schriftstück, das die Wohnung eindeutig meinem Namen zuordnete. Stempel, Unterschriften, alles so alt und so echt, dass man es fühlen konnte.

Ich lachte einmal leise, wie jemand, der nach Tagen unter Wasser endlich Luft bekommt.

„Ich hab dich“, flüsterte ich, ohne zu wissen, ob ich zu Marcus sprach oder zu meinem eigenen Leben.

Ich wollte die Mappe schon schließen, als mein Fuß auf etwas trat, das sich anders anfühlte.

Ein Knacken.

Nicht laut. Aber falsch.

Ich hielt inne, leuchtete nach unten.

Eine Diele war locker.

Ich kannte diese Dielen. Ich hatte als Kind darauf herumgetanzt. Aber diese… hatte ich nie so gesehen.

Neugier ist gefährlich, sagte mein Vater immer. Und trotzdem kniete ich mich hin.

Ich schob die Diele mit den Fingern an. Sie hob sich erstaunlich leicht.

Darunter war ein Hohlraum.

Mein Herz schlug so laut, dass ich dachte, jemand müsste es draußen hören.

Im Hohlraum lag ein kleiner feuerfester Kasten, etwa so groß wie ein Schuhkarton. Ein Safe.

Ich starrte ihn an, als wäre er ein Tier.

Mein Vater hatte nie von einem Safe gesprochen. Nie.

Ich zog ihn heraus. Schwer. Metall kalt in meinen Händen. Vierstelliger Code.

Ich tippte mein Geburtsjahr. Nichts.

Das Jahr meines Vaters. Nichts.

Das Jahr meiner Mutter. Nichts.

Dann, fast aus einer Erinnerung heraus: das Jahr ihrer Hochzeit.

Klick.

Der Deckel sprang auf.

Ich leuchtete hinein und erwartete Geld, Schmuck, irgendetwas, das man versteckt, weil es wertvoll ist.

Stattdessen lagen darin zwei Pässe – nicht unsere, nicht alte. Neu.

Und zwei Stapel Dokumente, ordentlich sortiert.

Ich nahm den ersten Pass, blätterte auf und erstarrte.

Marcus.

Sein Foto.

Sein Name.

Nicht sein echter? Oder doch. Aber der Pass war… nicht normal.

Ich schluckte, nahm den zweiten Pass.

Die junge Frau. Die Perle.

Sie. Mit einem anderen Namen.

Mir wurde kalt, als würde der Wald durch die Wände kriechen.

Sie planen wegzugehen.

Nicht irgendwann. Bald.

Meine Finger griffen nach den Dokumenten. Genehmigungen, Pläne, Unterschriftenfelder. Worte, die nach „Projekt“ klangen, nach „Bau“, nach „Freigabe“.

Ich verstand nicht alles. Aber ich sah Stempel. Und ich sah etwas, das ich sofort erkannte, weil ich es jeden Tag benutzt hatte.

Meine Signatur.

Nicht meine Handschrift – meine digitale Unterschrift, die ich im Büro für interne Freigaben nutzte.

Sie war auf einem Blatt.

Als „verantwortliche Stelle“ stand mein Name.

Mein Magen zog sich zusammen. Meine Knie wurden weich.

Das war kein Wohnungskrieg.

Das war größer.

Und das Schlimmste: Es war so gelegt, dass es auf mich zurückfällt.

Ich hörte meinen Atem in der stillen Hütte. Kurz. Flach.

Ich musste hier raus.

Ich musste jemanden anrufen.

Aber wen?

Frau von Eichen? Kramer? Oder… jemanden, der nicht zu diesem Netz gehört.

Ein Name stieg aus der Tiefe in mir hoch, wie ein letzter Strohhalm.

Meine Schwester.

Ich hatte seit Tagen nicht mit ihr gesprochen. Wir waren nicht eng, aber sie war Familie. Und ich brauchte jetzt jemanden, der mich nicht wie ein Fall betrachtet.

Meine Finger zitterten, als ich wählte.

Es klingelte.

„Hallo?“ Eine verschlafene Stimme.

„Mara“, flüsterte ich. „Ich bin’s. Du musst mir helfen. Sofort.“

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