Er warf mich ohne Geld aus dem Auto und die blinde Frau neben mir lächelte

„Mara“, flüsterte ich. „Ich bin’s. Du musst mir helfen. Sofort.“

Am anderen Ende war erst Stille, dann ein scharfes Einatmen. „Kathi? Wo bist du? Marcus hat—“

„Marcus lügt“, sagte ich so ruhig, dass mich meine eigene Stimme erschreckte. „Hör mir zu. Ich kann nicht alles am Telefon sagen. Aber es geht nicht nur um die Wohnung. Es geht um… etwas, das mich zerstören kann.“

„Was meinst du?“ Maras Stimme war jetzt wach. „Sag mir, wo du bist.“

Ich blickte zur dunklen Fensterscheibe, als könnte jemand draußen lauschen. „Wir treffen uns. In einer Stunde. In dem kleinen Nachtcafé an der alten Bundesstraße. Du weißt, wo. Und bitte: Sag niemandem etwas. Niemandem. Nicht Mama. Nicht Marcus. Niemandem.“

„Kathi, du machst mir Angst.“

„Mir auch“, antwortete ich. „Aber ich habe keine Zeit. Bitte.“

„Okay“, sagte sie sofort. „Ich komme.“

Ich legte auf, steckte das Handy ein und starrte auf den offenen Safe. Die Pässe, die Dokumente, die Stempel – alles lag da wie eine zweite Wirklichkeit. Als hätte mein Leben zwei Böden gehabt, und ich hätte gerade die lose Diele gefunden.

Ich nahm die blaue Mappe mit den Originalen. Die anderen Papiere ließ ich liegen. Nicht aus Dummheit, sondern weil mein Kopf nur noch eine Regel kannte: so wenig Spuren wie möglich.

Ich schloss den Safe wieder und schob ihn zurück in den Hohlraum. Die Diele legte ich darüber. Ich drückte sie fest, bis sie wieder wie Teil des Bodens wirkte.

Dann verließ ich die Hütte durch das Fenster, so wie ich gekommen war, und spürte erst draußen, wie kalt die Luft war. Der Wald atmete schwer. Nichts bewegte sich. Und trotzdem fühlte ich mich, als würde mich etwas beobachten.

Ich ging schnell den Weg zurück, ohne zu rennen. Rennen macht Geräusche. Und Geräusche bedeuten Aufmerksamkeit.

Dario wartete am gleichen Punkt, motorlos, als wäre er ein Stück Schatten. Er öffnete mir wortlos die Tür.

„Wir fahren zurück“, sagte ich. „Aber nicht zum Anwalt. Nicht direkt.“

Dario sah mich im Rückspiegel an. Sein Blick blieb neutral, aber die Spannung in seinem Kiefer verriet, dass er jedes falsche Wort registrierte.

„Wohin?“ fragte er knapp.

„Zu einem Café“, sagte ich. „In der Nähe. Ich muss jemanden sehen.“

Dario schwieg einen Moment. „Frau von Eichen hat zwei Stunden gesagt.“

„Dann fahren wir“, erwiderte ich. „Und wenn ich’s nicht schaffe, ist es sowieso vorbei.“

Er sagte nichts mehr. Das Auto setzte sich in Bewegung.

Das Café war eines dieser Orte, die nur nachts wirklich existieren: Neonlicht, das müde wirkt, ein paar Tische, die nach Jahren aussehen, und der Geruch von Kaffee, der zu lange auf der Platte stand. Zwei ältere Männer saßen über einer Zeitung, eine Bedienung wischte mechanisch Theke und Gedanken.

Mara saß am hinteren Tisch. Sie stand auf, als sie mich sah, und ihr Gesicht fiel sofort zusammen, als hätte sie meine Angst in der Haltung gelesen.

„Kathi…“ Sie umarmte mich kurz, fest, und ich spürte, wie sehr ich das gebraucht hatte. Dann setzte sie sich wieder und legte beide Hände um eine Tasse, als müsste sie sich festhalten.

„Was ist los?“ fragte sie.

Ich zog die blaue Mappe aus meiner Tasche und schob sie ihr hin. „Das sind die Originale zur Wohnung. Erbe, alte Unterlagen. Alles echt.“

Mara atmete hörbar aus. „Dann ist doch—“

„Nein“, unterbrach ich, und es war nicht hart, eher verzweifelt. „Das ist nur ein Teil. Ich habe noch etwas gefunden.“

Ich erzählte ihr vom Safe, von den Pässen, von den Papieren mit meinem Namen. Ich sagte nicht jedes Detail. Ich sagte genug.

Mara wurde blass. Ihre Augen wanderten immer wieder zur Tür, als erwarte sie, dass jemand hereinkommt und sich zu uns setzt.

„Das ist…“ Sie schluckte. „Das ist Wahnsinn.“

„Es ist eine Falle“, sagte ich. „Und ich bin die Figur, die am Ende ‘schuldig’ aussieht.“

Mara presste die Lippen zusammen. „Wir gehen zur Polizei.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nicht ohne Plan. Nicht ohne Schutz. Und nicht ohne jemanden, der nicht… verwoben ist.“

„Wer denn?“ flüsterte sie.

Sie dachte kurz nach, dann hob sie den Kopf. „Ich kenne jemanden. Aus dem Studium. Jonas. Er arbeitet jetzt in Hamburg, bei einer Kanzlei, die… die nicht hier vernetzt ist. Er ist stur, ehrlich, und er schuldet mir was.“

„Kann er helfen?“ fragte ich.

Mara nickte, fast zu schnell. „Er kann zumindest erklären, was wir tun dürfen und was nicht. Und vor allem: Wie man es so macht, dass du nicht morgen früh als Erste abgeholt wirst.“

Ich spürte zum ersten Mal seit Tagen so etwas wie Boden unter mir.

„Gut“, sagte ich. „Dann machst du das.“

„Ich?“ Maras Stimme kippte. „Wieso ich? Du musst doch—“

„Nein“, sagte ich. „Wenn ich irgendetwas offiziell tue, geht sofort eine Welle los. Und Marcus merkt es. Du bist… unauffälliger.“

Mara starrte mich an. „Kathi, das ist gefährlich.“

„Ich weiß.“ Ich senkte die Stimme. „Aber wenn ich nichts tue, bin ich erledigt.“

Ich schob ihr ein kleines Blatt zu, auf dem ich die Nummer von Herrn Kramer notiert hatte. „Falls irgendwas schiefgeht, ruf ihn an. Sag nur: ‘Es ist dringend, es geht um Katharina.’ Mehr nicht.“

Mara nickte mechanisch.

Ich stand auf, nahm die blaue Mappe wieder an mich. „Die Originale behalte ich. Die sind mein letzter Schutz. Aber du rufst Jonas an und sagst ihm, dass du morgen früh kommst. Und dass es vertraulich ist.“

„Und wenn er fragt, worum es geht?“

„Sag ihm, es geht um meine Freiheit“, sagte ich. „Das reicht.“

Wir umarmten uns noch einmal. Mara hielt mich länger, als sie sollte, wie jemand, der ahnt, dass Abschiede manchmal nicht angekündigt werden.

Als ich wieder im Wagen saß, sah Dario mich kurz im Spiegel an. „Fertig?“

„Ja“, sagte ich.

Wir fuhren zurück zum Anwesen. Ich dachte, dort würde es sich sicher anfühlen. Aber Sicherheit war inzwischen nur ein Wort, das man an die Haustür schreibt.

Als wir ankamen, stand Esther im Flur. Ihre Augen flackerten kurz. Nicht Angst. Eher: Alarm.

„Frau von Eichen ist im Arbeitszimmer“, sagte sie.

Ich ging hin, ohne zu zögern. Mein Körper tat, was er gelernt hatte: Geradeaus.

Frau von Eichen saß am Schreibtisch, eine Akte offen vor sich. Sie sah nicht überrascht aus, dass ich schneller zurück war. Sie sah aus, als hätte sie es erwartet.

„Haben Sie die Originale?“ fragte sie.

Ich legte die blaue Mappe auf den Tisch. „Ja.“

Sie schlug sie auf, blätterte, so schnell und sicher, dass mir klar wurde: Sie liest nicht, sie prüft.

„Gut“, sagte sie schließlich. „Das ist ein Hebel.“

„Und ich habe noch etwas gefunden“, sagte ich, bevor sie entscheiden konnte, was ich wissen darf. „In der Hütte. Einen Safe. Pässe. Und Dokumente mit meinem Namen.“

Ihre Augen hoben sich. Ein kurzes, kaum sichtbares Glimmen.

„Interessant“, sagte sie.

„Nicht interessant“, erwiderte ich. „Gefährlich.“

Sie lächelte dünn. „Gefährlich ist oft nur ein anderes Wort für nützlich.“

Mir wurde kalt.

„Was wollen Sie damit sagen?“ fragte ich.

Frau von Eichen lehnte sich zurück. „Ich will sagen, dass Marcus nicht nur ein Ehemann ist, der sich aus einem Streit rettet. Er ist jemand, der bereit ist, andere unter den Bus zu schieben. Das macht ihn schwach. Und Schwäche ist angreifbar.“

„Sie reden, als wäre das ein Schachspiel“, sagte ich.

„Ist es auch“, antwortete sie, als wäre das selbstverständlich. „Und Sie sind endlich aufgewacht.“

Ich dachte an Mara. An ihren blassen Blick. An das Wort „Falle“.

„Ich will nicht mehr nur reagieren“, sagte ich leise. „Ich will wissen, wer hier welche Fäden zieht.“

Frau von Eichen betrachtete mich lange. Dann sagte sie: „Sie werden es noch früh genug wissen.“

„Nein“, sagte ich, und ich hörte, wie fest meine Stimme geworden war. „Jetzt.“

Für einen Moment war es still.

Dann legte Frau von Eichen die Hände auf den Tisch, als würde sie mir eine Lektion geben, die ich mir selbst erkämpft habe.

„Sie wollen Wahrheit?“ sagte sie. „Wahrheit ist selten sauber. Und wer sie bekommt, kann sie nicht wieder zurückgeben.“

Ich hielt ihren Blick aus. „Ich kann sowieso nichts mehr zurückgeben.“

Ein kurzer Schatten glitt über ihr Gesicht. Vielleicht Respekt. Vielleicht nur Interesse.

„Gut“, sagte sie. „Dann hören Sie zu.“

Sie nannte Namen. Keine echten, keine, die man irgendwo nachschlagen könnte. Nur Rollen: ein einflussreicher Mann, eine ehrgeizige Tochter, ein Netzwerk aus Freundschaften, Gefälligkeiten, stillen Absprachen.

„Solange dieser Kreis steht“, sagte sie, „wird man Sie klein halten. Nicht mit Gewalt. Mit Papier. Mit Gerüchten. Mit Zeit.“

„Und wie bricht man so etwas?“ fragte ich.

Frau von Eichen schob mir eine dünne Mappe hin. „Mit Beweisen. Mit etwas, das niemand ignorieren kann.“

Ich öffnete sie.

Fotos. Ausdrucke. Kontenbewegungen, die auf den ersten Blick banal wirkten, bis man verstand, dass sie eine Spur zeichnen.

Mein Magen zog sich zusammen.

„Was ist das?“ flüsterte ich.

„Ihr Ausweg“, sagte Frau von Eichen. „Sie gehen damit zu dem Mann an der Spitze. Sie zeigen es ihm. Sie verlangen, dass man Ihre Sache fallen lässt. Und dann verschwinden Sie.“

„Verschwinden.“

Das Wort war wie ein Käfig.

„Und meine Wohnung?“ fragte ich.

„Sie lassen sie“, sagte Frau von Eichen, ohne zu blinzeln. „Das ist der Preis.“

Ich starrte auf die Mappe, dann auf meine Hände. So viele Tage hatte ich nur überlebt. Jetzt sollte ich handeln. Und wieder sollte ich etwas abgeben.

Ich dachte an Marcus, der mich am Busstop stehen ließ. An das Lächeln, das kein Lächeln war. An die Perle um den Hals der anderen Frau.

Ich dachte an Mara, die mich in einem Neon-Café festhielt, als wäre ich noch aus Fleisch und nicht schon aus Papier.

Und ich dachte an mich selbst – an die Wohnung, an die Bücher meines Vaters, an die Küche, in der meine Mutter immer sang, wenn sie glaubte, niemand hört zu.

Ich klappte die dünne Mappe langsam zu.

Frau von Eichen beobachtete mich, als würde sie eine Antwort zählen.

„Sie werden das tun“, sagte sie sicher. „Sie sind klug genug, um zu überleben.“

Ich stand auf.

„Ja“, sagte ich. „Ich werde überleben.“

Ich ging zur Tür, drehte mich noch einmal um und sah sie an.

„Aber nicht als jemand, der verschwindet.“

Frau von Eichen hob eine Augenbraue. „Was dann?“

Ich atmete einmal tief ein, und in diesem Atem lag etwas, das ich lange nicht mehr gespürt hatte: Entscheidung.

„Dann nehme ich alles zurück“, sagte ich. „Meine Wohnung. Meinen Namen. Meine Ruhe.“

„Und was ist mit denen, die Ihnen das genommen haben?“ fragte sie leise.

Ich spürte, wie etwas in mir kalt wurde, klar.

„Die zahlen“, sagte ich.

Ich ging hinaus, den Flur entlang, in mein Zimmer, und schloss die Tür hinter mir.

Ich holte die blaue Mappe unter dem Kissen hervor, strich mit den Fingern über den Karton, als wäre es eine Hand.

Dann nahm ich die neuen Schlüssel, die Frau von Eichen mir gegeben hatte – nicht für eine Wohnung, sondern für ein Zimmer in einem Haus, das nie meines sein würde.

Ich hielt sie in der Hand, schwer und kalt.

Und in diesem Gewicht begriff ich: Ein Schlüssel ist nicht nur zum Aufschließen da.

Manchmal ist er der Beweis, dass man überhaupt noch eine Tür hat, zu der man zurückkehren darf.

Ich setzte mich, nahm Papier und Stift und begann zu schreiben.

Keine Drohung. Kein Drama.

Nur eine Liste.

Was ich weiß.

Was ich beweisen kann.

Und was ich mir holen werde.

Als ich fertig war, war es draußen still.

Und zum ersten Mal seit Wochen fühlte sich diese Stille nicht wie ein Ende an, sondern wie der Moment, bevor etwas beginnt.

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