Der Wagen fuhr nicht durch die normalen Zufahrten des Flughafens. Er nahm einen Weg hinter Zäunen, an Lagerhallen vorbei, durch ein Tor, das sich erst öffnete, als eine Kamera ihr Gesicht erfasste und ein unsichtbarer Lautsprecher „Bestätigt“ sagte.
Die Frau sagte nichts. Sie beobachtete nur, wie die Welt draußen stiller wurde, je weiter sie sich vom Applaus entfernten.
Irgendwann hielten sie vor einem flachen Gebäude ohne Schild. Graue Wände, wenige Fenster, Licht, das nie warm wirkte. Der Mann im dunklen Mantel stieg zuerst aus und hielt ihr die Tür auf, nicht galant, eher wie jemand, der weiß, dass Zeit kostbar ist.
Drinnen roch es nach Kaffee, Papier und sauberer Klimaanlage. In einem kleinen Raum stand ein Tisch, zwei Stühle, ein Bildschirm an der Wand. Keine dramatische Kulisse. Nur die Art von Nüchternheit, die Dinge ernst macht.
„Setzen Sie sich“, sagte der Mann.
Sie blieb stehen. „Erst sagen Sie mir, warum Sie mich hierherbringen.“
Er nickte. „Weil Ihr Rufzeichen nie wirklich verschwunden ist. Und weil heute jemand versucht hat, es zu hören.“
Sie blinzelte kaum. „Ich habe es gesagt.“
„Ja“, antwortete er. „Aber Sie haben es nicht erfunden. Sie haben es reaktiviert.“
Sie setzte sich jetzt doch. Langsam, als würde sie prüfen, ob der Stuhl trägt. Der Mann zog eine dünne Mappe aus seiner Tasche, legte sie auf den Tisch, schob sie nicht sofort zu ihr.
„Wie heißen Sie jetzt?“ fragte er.
Sie sah an ihm vorbei. „Das spielt keine Rolle.“
„Für Protokolle spielt es eine Rolle.“
„Für Protokolle“, wiederholte sie, und in ihrer Stimme lag ein Hauch Müdigkeit. „Nennen Sie mich, wie Sie wollen.“
Er atmete aus. „Gut. Dann bleiben wir bei Falke Eins.“
Der Bildschirm an der Wand flackerte. Ein Standbild zeigte einen Punkt auf einer Karte – Meer, eine große dunkle Fläche, mit einer roten Markierung, die wie ein Tropfen aussah.
Sie spürte es, bevor er etwas sagte. Nicht als Wissen. Als Körpererinnerung. Kälte hinter den Rippen.
„Das kam“, sagte der Mann, „drei Minuten nach Ihrem Funkkontakt.“
„Was genau ist ‘das’?“ fragte sie.
Er drückte auf eine Taste. Ein kurzer Ton erklang aus einem Lautsprecher, ein abgehacktes Knistern, dann eine Stimme, verzerrt, als käme sie durch Wasser oder alte Kabel:
„…Falke Eins…“
Sie erstarrte nicht sichtbar, aber ihre Finger schlossen sich leicht. Ein Reflex.
Die Aufnahme brach ab.
„Das ist nicht möglich“, sagte sie leise.
„Wir haben die Quelle geortet“, erwiderte er. „Nicht hundertprozentig, aber deutlich genug.“
„Und Sie denken, es hängt mit mir zusammen.“
„Wir denken nicht. Wir sehen Muster. Und Omega ist ein Muster.“
Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch. „Sie sagen ‘Omega’, als wäre es ein Mensch.“
„Es ist ein Protokoll. Ein Schalter. Eine Art… Rückruf.“
„Rückruf wovon?“
Der Mann zögerte. Dann öffnete er die Mappe. Keine Logos, keine Namen. Nur Datumszeilen, Codes, schwarze Balken. Ein Foto: eine Startbahn bei Nacht, verwischt. Ein anderes: ein Flugzeug, das nur als Schatten zu erkennen war. Und ein drittes: ein Emblem, das so schlicht war, dass es gerade deshalb bedrohlich wirkte.
„Das ist aus Ihrer alten Akte“, sagte er.
Sie lachte kurz, trocken. „Meine Akte existiert nicht mehr.“
„Sie existiert, wenn man weiß, wo man schaut.“
Sie betrachtete die Bilder. Es war, als würde man in einen Spiegel sehen, der einen nicht mehr kennt. „Warum jetzt?“ fragte sie. „Warum ausgerechnet heute, nach all den Jahren?“
Der Mann legte die Hände flach auf den Tisch. „Weil Sie gesprochen haben. Und weil jemand zugehört hat.“
„Wer?“
„Das ist die Frage.“
Draußen im Flur gingen Schritte vorbei. Stimmen, gedämpft. Ein Summen von Geräten, das klang wie ein Bienenschwarm aus Elektronik.
Die Tür öffnete sich, ohne Klopfen. Eine Frau trat ein, ungefähr in ihrem Alter, kurze Haare, klare Augen, ein Gesicht, das nicht „streng“ sein wollte, sondern „wach“. Sie trug keine Uniform, aber sie bewegte sich, als wäre sie an Befehle gewöhnt.
„Ich bin Lena“, sagte sie. „Ich leite die technische Auswertung.“
Die Frau am Tisch – Falke Eins, wie sie sie nannten – nickte knapp.
Lena stellte ein kleines Gerät auf den Tisch. Es sah aus wie ein einfacher Recorder, nur zu schwer für Plastik. „Wir haben den Ruf in mehreren Leitstellen gespiegelt. Hier ist die Rohspur. Und hier…“ Sie tippte auf das Gerät. „…die Analyse.“
Ein Diagramm erschien auf dem Bildschirm: Linien, Peaks, Muster.
„Das ist Ihre Stimme“, sagte Lena. „Nicht im Sinne von ‘wir erkennen Sie’, sondern im Sinne von: Ihre Sprechweise triggert einen alten Abgleich. Ein Filter. Sobald bestimmte Frequenzen und Sprechmuster zusammenkommen, wird ein Kanal geöffnet.“
Falke Eins runzelte die Stirn. „Das heißt… mein Rufzeichen war eine Art Schlüssel?“
„Ja“, sagte Lena. „Und jemand hat dafür gesorgt, dass der Schlüssel noch passt.“
Der Mann im Mantel ergänzte: „Deshalb wollte ich nicht, dass Sie darüber reden. Nicht vor Kameras. Nicht vor Fremden.“
„Zu spät“, murmelte Falke Eins.
Lena nickte. „Passagiervideos sind bereits online. Wir versuchen, die Verbreitung einzudämmen, aber…“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das Netz vergisst nichts.“
Falke Eins lehnte sich zurück. „Also was wollen Sie von mir?“
Der Mann im Mantel sah sie direkt an. „Wir wollen, dass Sie mitkommen.“
„Wohin?“
Lena schaltete das Bild um. Wieder die Karte. Wieder der rote Punkt im Meer. „Hier“, sagte sie. „Dort kommt das Signal her. Schwach. Unregelmäßig. Aber es ist da.“
„Ein Wrack?“ fragte Falke Eins.
„Vielleicht“, sagte Lena. „Oder etwas, das wie ein Wrack aussieht.“
„Und Sie haben Schiffe“, entgegnete Falke Eins. „Sie haben Leute.“
Der Mann im Mantel antwortete ruhig: „Wir haben viele Dinge. Was wir nicht haben, ist Ihre Erinnerung. Ihr Instinkt. Ihre Fähigkeit, in einem Chaos zu erkennen, was wirklich wichtig ist.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe diesen Instinkt bezahlt. Teuer.“
Lena trat näher. „Es geht nicht um Heldentum“, sagte sie. „Es geht um Verantwortung. Wenn dort draußen etwas aktiv ist, das nur auf Sie reagiert, dann sind Sie ohnehin Teil davon. Ob Sie wollen oder nicht.“
Ein Moment der Stille.
Falke Eins griff nach der Mappe, blätterte langsam. Zwischen den Seiten steckte ein kleiner Ausdruck: Koordinaten, handschriftlich, als hätte jemand sie früher in Eile notiert.
Sie kannte diese Zahlen.
Ihr Hals wurde trocken. „Das…“ begann sie.
Der Mann im Mantel beobachtete sie. „Sie erkennen es.“
„Ich erkenne die Gegend“, sagte sie. „Wir haben dort damals die Verbindung verloren. Es gab Nebel, falsche Anzeigen, Funk tot. Und dann…“ Ihre Stimme wurde leiser. „Dann war ich allein.“
Lena fragte vorsichtig: „Glauben Sie, jemand von damals könnte noch…?“
Falke Eins hob den Blick. „Wenn ich das glauben würde, hätte ich seit zehn Jahren nicht schlafen können.“
Der Mann im Mantel stand auf und ging zum Fenster, als bräuchte er Bewegung, um diesen Satz zu ertragen. „Wir haben noch etwas“, sagte er schließlich.
Er drehte sich um, legte ein zweites Gerät auf den Tisch. Klein, schwarz, mit einem einzigen Knopf. „Das kam heute Nacht in eine unserer Poststellen. Ohne Absender.“
„Eine Drohung?“ fragte Falke Eins.
„Vielleicht. Vielleicht auch eine Einladung.“
Lena drückte den Knopf. Das Gerät knisterte. Dann – kaum hörbar, aber eindeutig – eine Stimme, gebrochen, müde, und doch menschlich:
„…Falke… wenn du mich hörst… geh nicht allein…“
Falke Eins’ Brust hob sich, als hätte sie einen Schlag bekommen. Ihre Augen blieben trocken, aber in ihnen flackerte etwas, das gefährlich war: Hoffnung.
„Stopp“, sagte sie heiser.
Lena stoppte. „Sie erkennen die Stimme?“
Falke Eins schüttelte langsam den Kopf. „Ich will sie erkennen“, sagte sie. „Das ist der Unterschied.“
Der Mann im Mantel setzte sich wieder. „Wir müssen davon ausgehen, dass jemand dieses Material besitzt. Dass jemand es benutzt. Und dass Omega mehr ist als nur ein altes Protokoll.“
„Was ist Omega wirklich?“ fragte Falke Eins.
Lena antwortete diesmal statt ihm: „Ein System zur Eindämmung. Damals für den Fall, dass etwas nicht zurück an die Oberfläche darf.“
„Etwas“, wiederholte Falke Eins. „Das ist Ihr Lieblingswort.“
Der Mann im Mantel sah sie an. „Weil genaue Worte gefährlich sind, wenn man nicht weiß, wer mithört.“
Als hätte die Welt diesen Satz bestätigt, flackerte plötzlich das Deckenlicht. Einmal. Zweimal. Der Bildschirm wurde schwarz, dann wieder hell. Lena fuhr herum.
„Das ist nicht normal“, sagte sie.
Ein leises Piepen ertönte aus dem kleinen Recorder. Nicht das Abspielgerät – der andere, der neu angekommen war. Es leuchtete kurz auf, als würde es antworten.
Lena griff nach ihrem Tablet. „Wir haben eine Verbindung“, flüsterte sie. „Von außen.“
„Hier?“ fragte der Mann im Mantel scharf.
„Ja“, sagte Lena. „Jemand versucht, in unser Netz zu kommen.“
Falke Eins stand auf. Ihr Körper bewegte sich, bevor ihr Kopf alles sortiert hatte. „Trennen“, sagte sie. „Alles trennen. Stecker ziehen. Funk aus.“
Lena zögerte nur eine halbe Sekunde – dann rannte sie hinaus.
Der Mann im Mantel griff nach der Mappe, wollte sie schließen, als könnte Papier schützen. Falke Eins legte ihre Hand darauf.
„Nicht“, sagte sie. „Wenn das Omega ist, dann will es, dass ich sehe.“
Er hielt inne. „Und wenn es will, dass Sie kommen?“
Sie blickte auf den roten Punkt auf der Karte, dieses kleine Zeichen in der großen dunklen Fläche.
„Dann“, sagte sie leise, „muss ich entscheiden, ob ich komme, um zu gehorchen… oder um zu beenden.“
In diesem Moment sprang der Bildschirm noch einmal an – von selbst. Keine Karte mehr. Kein Diagramm. Nur ein schwarzer Hintergrund und eine einzige Zeile Text, weiß, nüchtern, wie eine alte Maschinenmeldung:
FALKE EINS ERKANNT. KANAL GEÖFFNET.
Dann Stille.
Und irgendwo tief in ihrem Körper, dort wo früher der Himmel gewohnt hatte, spürte sie es: Nicht nur jemand hörte zu.
Etwas wartete.
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