Teil 5: Die Dinge, die bleiben
Der Tag nach dem Ausflug an den See begann mit Nebel.
Nicht der bedrohliche, kalte Nebel des Winters, sondern jener weiche, matte Dunst, der sich wie eine Decke über das Land legte, als wolle er alles Lautlose schützen. Die Bäume der Lüneburger Heide standen wie Schemen im Grau, und selbst Emil schien leiser zu atmen.
Hedi saß am Küchentisch.
Vor ihr dampfte ein Becher Malzkaffee, daneben ein zerfledertes Notizbuch. Ihr Finger strich über die Einträge – Tierarzttermine, Medikamentendosen, kurze Sätze wie: „Gute Nacht gehabt“ oder „Wieder gefressen, langsam.“
Heute hatte sie nichts notiert.
Bella hatte nicht gefressen.
Lukas trat leise in die Küche.
Er trug eine dicke Strickjacke, die er im Flur gefunden hatte – alt, ausgebeult, aber warm. „Sie schläft noch.“
„Oder tut so“, sagte Hedi.
Er setzte sich ihr gegenüber. Ihre Augen waren gerötet. Vom Schlafmangel oder von etwas anderem – sie wusste es nicht.
„Wie lange ist das jetzt her?“, fragte er.
„Dreizehn Wochen seit der Diagnose. Sieben seit der letzten schlimmen Nacht. Drei Tage seit dem See.“
Lukas nickte. Dann sagte er leise: „Ich hab was gelesen.“
„Was?“
„Dass manche Tiere gehen, wenn man sie lässt. Aber manche… brauchen jemanden, der sagt: Es ist okay.“
Hedi antwortete nicht sofort.
Dann schob sie das Notizbuch weg. Langsam. Als würde sie ein Kapitel zuklappen, das sie nicht mehr schreiben wollte.
„Ich habe mit der Tierärztin gesprochen. Heute Nachmittag kann sie kommen. Nur für den Fall.“
Lukas sah sie an.
„Du meinst… es ist soweit?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich will vorbereitet sein.“
—
Der Tag schlich voran. Bella blieb still. Sie hob den Kopf, wenn man sie ansprach, aber sie stand nicht auf. Frida kam wie immer – doch blieb auf Abstand. Als wüsste sie, dass heute kein Tag für Nähe war.
Nur Emil sang. Ganz leise. Wie ein Vogel, der gegen das Vergessen ansingt.
Lukas saß bei Bella. Seine Hand lag auf ihrem Nacken. Nicht fest. Nur da.
Er sprach kaum. Nur ab und zu flüsterte er etwas. Von früher. Von Spaziergängen im Schnee. Von dem Tag, an dem er sie aus dem Tierheim holte und sie in seinem Zimmer unter dem Schreibtisch schlief, weil sie nur dort sicher war.
Hedi bereitete alles vor. Eine weiche Decke. Den Platz im Wohnzimmer, den Bella am meisten mochte. Wasser in der Schale, falls sie trinken wollte. Nichts Besonderes. Nur Ordnung.
Und dann klingelte es.
Vier Uhr dreißig.
Frau Dr. Kästner trat ein. Ihre Schritte waren leise, ihr Blick klar.
„Wie war die Nacht?“, fragte sie.
„Still“, sagte Hedi.
Die Ärztin kniete sich hin. Berührte Bella vorsichtig.
„Herz schwach. Aber nicht unruhig. Keine sichtbare Atemnot. Keine akute Krise.“
Lukas sah sie an. „Was heißt das?“
„Sie kann noch. Aber sie muss nicht mehr.“
Dann richtete sie sich auf.
„Ich lasse Ihnen Zeit. Rufen Sie mich, wenn Sie soweit sind. Ich bleibe im Auto.“
Sie ging. Niemand hielt sie zurück.
—
Die Minuten danach gehörten der Stille.
Hedi setzte sich auf den Boden. Lukas saß schon da. Beide sahen auf Bella. Ihre Flanken hoben sich kaum. Doch ihre Augen waren offen.
„Sie sieht uns an“, flüsterte Lukas.
„Ja.“
„Worauf wartet sie?“
Hedi schüttelte den Kopf.
„Vielleicht auf ein Zeichen.“
Er legte den Kopf schief.
„Was wäre so ein Zeichen?“
„Ehrlichkeit.“
Dann stand sie auf, ging zum Fenster, öffnete es einen Spalt.
„Wir haben dich lieb, Bella“, sagte sie leise, fast in den Nebel hinein.
„Und wenn du willst… darfst du gehen.“
Lukas schloss die Augen. Seine Hand ruhte auf Bellas Pfote.
Nichts geschah. Kein Laut. Kein Zucken.
Doch dann – ein Geräusch.
Nicht von Bella. Vom Fenster.
Ein Flattern. Ein Schatten.
Emil.
Er saß plötzlich auf der Gardinenstange. Nicht im Käfig. Offenbar war die Tür nicht richtig eingerastet gewesen. Er saß dort – still. Und dann sang er.
Laut. Voll.
Ein Ton, der durchs ganze Haus ging.
Hedi hielt den Atem an.
Bella schloss langsam die Augen.
Und atmete tief aus.
Dann: nichts.
Nur Ruhe.
Lukas legte sein Ohr an ihren Brustkorb.
„Kein Herzschlag mehr“, flüsterte er.
Hedi trat heran. Berührte ihre Schnauze.
„Sie ist gegangen.“
Emil schwieg. Und flog zurück in seinen Käfig.
—
Zwei Stunden später war alles still. Die Tierärztin war gegangen. Sie hatte es schnell und sanft gemacht. Bella lag nun auf der Decke im Garten, unter dem Forsythienbusch. Ein Tuch bedeckte ihren Körper. Nur die Nase schaute noch hervor.
Frida stand daneben. Unbeweglich.
Lukas hatte ein kleines Schild gemacht: Bella. Freundin. Wächterin. Herz.
Hedi hängte es am Rosenbogen auf. Kein Grab. Kein Stein. Nur ein Platz. Ihr Platz.
—
In der Nacht konnte keiner schlafen.
Lukas ging hinaus, setzte sich an den alten Gartentisch. Hedi folgte ihm wenig später. Sie brachte zwei Tassen Tee. Kamillentee mit Honig.
„Es war richtig“, sagte sie.
„Ja.“
„Und schwer.“
„Auch das.“
Sie sahen in den Himmel. Wolken zogen schnell. Aber keine Sterne.
„Was machen wir jetzt mit dem Rest?“, fragte Lukas.
„Was meinst du?“
„Mit Frida. Mit Emil. Mit dem, was bleibt.“
Hedi dachte lange nach.
Dann sagte sie:
„Wir leben. Für sie. Und mit ihnen.“
Und dann – zum ersten Mal seit Wochen – lachte sie leise.
„Und wir lernen, nicht alles retten zu müssen, aber niemanden allein zu lassen.“
Lukas nickte.
Emil sang nicht mehr. Aber er saß auf seiner Stange – und sah ihnen zu. Als wüsste er: Jetzt beginnt etwas Neues.