Teil 8: Ein Garten ohne Versprechen
Drei Tage war Lukas fort.
Nicht lang, nicht weit – aber lang genug, dass das Haus wieder anders klang. Seine Schritte fehlten. Der zweite Stuhl blieb leer. Der Wasserkocher piepte ins Leere. Und Hedi erwischte sich dabei, morgens zu viele Teelöffel in die Kanne zu geben.
Der Welpe, noch immer namenlos, hatte sich schnell an das neue Arrangement gewöhnt. Er schlief auf Bellas alter Decke, trank aus Fridas Eimer, folgte Hedi durch jedes Zimmer. Und wenn sie stehen blieb, setzte er sich. Immer. Als wolle er sagen: Ich bin da. Ich bleib, bis du weitergehst.
In der dritten Nacht kam der Regen.
Ein feiner, durchdringender Landregen, der auf die Dachziegel trommelte wie alte Erinnerungen. Hedi saß am Fenster, eine Tasse in der Hand, Emil leise schnarrend im Hintergrund. Frida hatte sich in den Schuppen zurückgezogen. Der Welpe lag zusammengerollt unter dem Küchentisch, die Nase unter die Pfoten gesteckt.
Und da, in diesem Moment, fiel ihr zum ersten Mal ein Name ein.
Nicht gesucht. Nicht überlegt. Einfach da.
Milo.
Sie sprach ihn nicht laut aus. Nur innerlich. Probierte ihn auf der Zunge. Milo. Wie das sanfte Wippen eines Bootes. Wie etwas, das nicht fordert, sondern bleibt.
Am Morgen war der Regen fort. Dafür kam die Nachricht.
Lukas schrieb:
Bin einen Tag länger in Hamburg. Alles gut. Ich bring dir was mit.
Hedi las die Zeile dreimal. Dann schrieb sie nicht zurück.
Stattdessen ging sie in den Garten.
Milo – sie dachte ihn jetzt wie selbstverständlich so – watschelte ihr hinterher. Frida folgte ihnen, kaute an einem alten Tuch. Emil sang. Das Haus klang wieder voll.
Sie schnitt verblühte Rosen. Trug Äste zusammen. Holte das alte Werkzeug aus der Laube. Und dann, gegen Mittag, machte sie etwas, das sie seit Jahren nicht mehr getan hatte:
Sie holte einen leeren Blumentopf aus dem Regal, füllte ihn mit Erde und pflanzte eine junge Kornblume.
Für Bella.
Nicht am Grab. Nicht an einem Gedenkstein. Einfach im Garten. Wo das Leben weiterging.
—
Am Nachmittag kam ein Brief.
Keine Rechnung, keine Werbung. Handschriftlich, leicht schief. Absender: Tierheim Walsrode.
Hedi öffnete ihn auf der Terrasse.
Liebe Frau Meiners,
wir wollten uns noch einmal für die schnelle Aufnahme des Welpen bedanken.
Es hat uns tief berührt, dass Sie – trotz Ihrer eigenen Verluste – diesem kleinen Wesen eine Chance geben.
Nur ein Nachtrag zur Akte: Wir haben nun erfahren, dass der kleine Rüde nicht ausgesetzt wurde.
Eine ältere Frau hatte ihn gebracht, bat um Anonymität. Sie sagte nur: „Ich kann nicht mehr. Aber er soll nicht allein sein.“
Wir glauben, sie hat ihn mit Liebe großgezogen – und dann losgelassen.
Vielleicht ist das die Geschichte, die er trägt.
Mit herzlichem Gruß,
Ihre Tierhilfe Walsrode
Hedi hielt das Papier lange in der Hand.
Dann sah sie zu Milo.
Der schlief im Schatten der Linde. Tief, vertrauensvoll, auf dem Rücken, die kleinen Beine in der Luft.
„Du bist schon zweimal losgelassen worden“, sagte sie leise.
„Und du lebst trotzdem.“
—
Als der Abend kam, spürte sie zum ersten Mal: Etwas hatte sich verschoben.
Nicht dramatisch. Kein großes Gefühl. Aber eine neue Schicht hatte sich gelegt.
Wie Tau auf alten Blättern.
Sie setzte sich neben Milo. Strich ihm über das Ohr.
„Du brauchst einen Namen, weißt du das?“
Er zuckte kurz. Blinzelte.
Dann gähnte er. Und rollte sich zur Seite.
Sie lachte. Leise. Dann sagte sie es zum ersten Mal laut:
„Milo.“
Er reagierte nicht. Aber der Name blieb im Raum. Und sie wusste: Es war richtig.
—
Lukas kam am nächsten Nachmittag zurück.
Der Himmel war wolkenlos. Das Dorf schien stillzustehen in diesem Moment zwischen Frühling und Sommer, wo alles gleichzeitig blüht und vergeht.
Er trug einen Stoffbeutel und einen Briefumschlag.
„Ich hab dir was mitgebracht“, sagte er.
„Was ist das?“
„Ein Halsband. Und ein Vertrag.“
„Ein was?“
„Ich hab mich beim Verlag beworben. Die wollten schon länger was von mir. Jetzt haben sie zugesagt. Ich soll eine kleine Geschichte schreiben. Zehn Kapitel. Über Hunde, über Trauer. Über einen Ort mit einem Vogel und einer Ziege.“
Hedi sah ihn lange an.
„Du bleibst?“
„Für jetzt – ja. Vielleicht länger.“
Dann trat er zu Milo. Hockte sich hin.
„Na, Freund. Hast du schon einen Namen?“
„Milo“, sagte Hedi.
Er nickte.
„Passt.“
Sie tranken Tee. Auf der Terrasse. Emil sang. Frida schlief. Und Milo lag zu ihren Füßen.
Und dann, plötzlich, ohne große Ankündigung, sagte Lukas:
„Weißt du, was das Schlimmste an Trauer ist?“
Hedi schüttelte den Kopf.
„Dass sie nicht nur weh tut. Sondern dass sie lehrt, wie sehr man gelebt hat.“
„Ist das schlimm?“
„Manchmal ja. Aber manchmal… ist es der Anfang.“
Sie sagte nichts mehr. Sie musste nicht.
Denn das Leben war noch da.
Mit vier Pfoten. Mit Stimme. Mit Erde unter den Fingernägeln.
Und mit einem Blick, der sagte: Solange du mich ansiehst, bleib ich.