Fenster zum Hof | Ein alter Mann, ein stummer Hund und das stille Versprechen am Ende des Hofs

🐾 Teil 9: Der leere Hof

Der Hof war stiller als je zuvor.
Nicht einfach ruhig, sondern leer.
Wie ein vergessenes Zimmer, aus dem alles Leben verschwunden war.

Georg saß am Fenster und wartete.
Seit vier Tagen kein Licht.
Seit vier Tagen keine Bewegung.
Seit vier Tagen kein Basko.

Er hatte aufgehört, den Kaffee für zwei zu kochen.
Die zweite Tasse blieb kalt, wurde später in den Ausguss geschüttet.
Die Decke am Heizkörper war zusammengefaltet, aber er brachte es nicht übers Herz, sie wegzuräumen.

Der Sessel gegenüber stand leer.
Sein eigener Körper fühlte sich plötzlich doppelt so schwer an.

Manchmal redete er leise in die Stille hinein.
Als wäre da jemand.
Aber niemand antwortete.

Am fünften Morgen, nach einer Nacht ohne Schlaf, traf er eine Entscheidung.
Er zog sich an, langsamer als sonst, mit zitternden Händen.
Er kämmte sein Haar, als hätte er einen Termin.

Dann ging er los.

Der Weg führte ihn in die Innenstadt.
Er nahm den Bus, obwohl er lieber gegangen wäre.
Aber seine Knie erlaubten keine langen Strecken mehr.

An der Bushaltestelle fragte er sich zum Verwaltungsbüro des Wohnkomplexes durch.
Er zeigte seine Ausweispapiere, erklärte sich freundlich.

Die junge Frau hinter dem Schreibtisch tippte seinen Namen in einen Computer, runzelte dann die Stirn.
„Sie möchten etwas über die Bewohner der Nummer zwölf wissen?“

„Nicht über Menschen“, sagte Georg.
„Über einen Hund. Basko. Und die Frau, die ihn manchmal betreute. Clara.“

Die Frau nickte langsam.
„Einen Moment, ich schaue nach.“

Sie verschwand in einem Nebenzimmer.
Georg setzte sich auf den Stuhl im Wartebereich, die Hände ineinander verschränkt.

Nach ein paar Minuten kam sie zurück, mit einem Papier in der Hand.
„Die Wohnung wurde letzte Woche offiziell aufgegeben. Die Eigentümerin – ich denke, das war Claras Tante – ist dauerhaft ins Pflegeheim verlegt worden. Clara hat den Schlüssel zurückgegeben.“

„Und der Hund?“

Die Frau las noch einmal.
„Hier steht: Das Tier wurde der Tierrettung übergeben. An das Tierheim in Hüttenberg.“

Georg nickte langsam.
„Danke.“

Er stand auf, verließ das Gebäude.
Draußen wehte ein kalter Wind, aber er spürte ihn kaum.

Hüttenberg.
Nicht weit.
Ein paar Busstationen nur.

Er zögerte einen Moment.
Dann ging er zur Haltestelle.

Der Bus war leer.
Georg setzte sich in die hinterste Reihe.
Während draußen die Felder vorbeizogen, dachte er an Basko.
An das erste Mal, als er ihn sah.
An die Stille, die sie teilten.
An das leise Schnauben im Schlaf.

Er fragte sich, ob Basko ihn noch erkannte.
Ob er noch wusste, wer da morgens am Fenster stand.

Im Tierheim wurde er von einer Frau mit kurzen weißen Haaren empfangen.
Ihr Namensschild trug den Vornamen „Tanja“.

Georg stellte sich vor, erklärte, weshalb er kam.
Sie lächelte traurig.
„Basko… ja, ich erinnere mich. Ein alter Kerl. Kam letzte Woche.“

„Ist er noch hier?“

„Ja. Niemand wollte ihn bisher. Zu alt, sagen die Leute. Zu ruhig.“

„Ich möchte ihn sehen.“

Sie nickte.
„Kommen Sie mit.“

Der Gang war hell, roch nach Stroh und Futter.
Aus einigen Zwingern hörte man Bellen, jaulen, winseln.
Aber weiter hinten, fast am Ende des Gebäudes, war es leise.

Tanja öffnete eine Tür.

Da lag er.
Zusammengerollt in einer Decke, die Augen geschlossen.
Das Fell wirkte grauer als sonst.

„Basko“, flüsterte Georg.

Der Hund hob den Kopf.
Langsam.
Dann öffnete er die Augen.

Ein Moment verging.
Dann ein Zucken im Ohr.
Ein Schlagen mit dem Schwanz.

Georg trat näher.
Kniete sich hin.

„Na, mein Großer. Ich hab dich gefunden.“

Basko legte den Kopf auf seine Knie.

Tanja beobachtete die Szene.
„Er kennt Sie.“

Georg nickte.
„Er war bei mir. Eine Weile. Und ich war bei ihm.“

Sie schwieg.
Dann sagte sie leise:
„Wir suchen jemanden für ihn. Er hat nicht mehr viele Winter vor sich. Aber vielleicht noch einen letzten Frühling.“

Georg sah sie an.
„Ich bin nicht mehr der Jüngste. Aber ich hab ein warmes Fenster. Und Zeit.“

Tanja lächelte.
„Mehr braucht er nicht.“


Und während draußen der Wind leiser wurde, begann in Georg ein Gedanke zu wachsen, der sich wie Zuhause anfühlte.

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