🐾 Teil 4: Der Name im Brief
Der Brief war vergilbt. Der Umschlag aus brüchigem Papier. Die Tinte ausgewaschen, aber noch lesbar. Klaus hielt ihn mit beiden Händen, als könne er zerspringen.
„Für Frieda. Wenn sie je zurückkommt.“
Die Handschrift war kindlich, schief, ungeduldig. Die Zeilen eng aneinander gedrängt.
Er öffnete ihn vorsichtig.
Liebe Frieda,
ich weiß nicht, ob du mich noch findest. Vielleicht bist du längst ein alter Hund, vielleicht lebst du gar nicht mehr.
Aber wenn du das liest, dann hast du mich gefunden. Oder wenigstens diesen Hof.
Ich wollte damals nicht gehen. Nicht ins Heim. Ich habe geschrien, geweint, dich gesucht. Aber sie haben gesagt, du wärst weg.
Ich hab’s dir nie sagen können: Es war nicht deine Schuld.
Du warst mein einziger Freund.
Wenn du mich findest, ich bin:
Jonas K.
Jahrgang 2001Vielleicht bin ich dann ein Mann. Aber in mir wartet noch immer der Junge von damals.
Klaus legte den Brief langsam auf den Tisch. Frieda saß daneben, starrte ihn an. Ihre Augen groß, wach. Irgendetwas in ihr vibrierte. Als hätte sie den Namen erkannt.
„Jonas…“ flüsterte Klaus.
Er durchsuchte die Kiste. Darin: alte Kinderzeichnungen. Ein Haus, ein Apfelbaum, ein Hund. Immer derselbe Hund. Frieda, deutlich zu erkennen.
Und ganz unten: ein Foto. Ein Junge mit rotblondem Haar, vielleicht sieben Jahre alt, die Arme um einen pelzigen Welpen geschlungen. Frieda.
Klaus erinnerte sich vage. Es musste 2010 gewesen sein. Frieda war kaum ein Jahr alt. Damals hatte Marlene ein soziales Projekt unterstützt, sie besuchten regelmäßig ein Kinderheim im Schwarzwald. Viele Kinder hatten schwierige Hintergründe. Frieda wurde schnell zur Lieblingstherapiehündin.
Aber Jonas…?
Klaus konnte sich nicht erinnern, dass je jemand diesen Brief erwähnt hatte.
Er packte das Foto ein, auch den Brief. Er würde suchen. Es war Friedas Wunsch. Daran zweifelte er nun nicht mehr.
Zurück im Auto war sie erschöpft, aber wach. Ihre Augen blieben auf dem Foto, das auf dem Beifahrersitz lag.
„Du willst ihn noch sehen, nicht wahr?“
Sie blinzelte. Ganz langsam.
Dann legte sie den Kopf auf die Pfoten.
In der Stadtbibliothek von Überlingen fand Klaus den ersten Hinweis. Er fragte nach alten Heimen, nach Entlassungen. Eine ältere Bibliothekarin hörte aufmerksam zu. Als er den Namen nannte, runzelte sie die Stirn.
„Jonas K.? Oh, ich erinnere mich. Der Fall ging damals durch die Zeitung. Der Junge, der plötzlich verschwunden war, als er in eine neue Pflegefamilie sollte.“
Klaus fröstelte.
„Verschwunden?“
„Ja. Ist aber lange her. Ich glaube, er wurde Wochen später in einer Gartenlaube gefunden. Krank, unterkühlt, aber lebend. Danach kam er nach Karlsruhe.“
Sie suchte in einem Archivordner.
„Hier – Entlassungsprotokoll, 2015. Adresse unbekannt. Später Wechsel ins Jugendwohnheim.“
Mehr war nicht zu erfahren.
Keine Familie. Keine Spur.
Klaus fuhr mit Frieda Richtung Karlsruhe. Fünf Stunden Fahrt. Immer wieder schaute er zu ihr. Ihre Atmung war unregelmäßig. Die Pausen dazwischen wurden länger.
In einem Motel in der Nähe der Stadt legten sie eine Pause ein. Klaus bestellte Kartoffelsuppe. Frieda bekam weichgekochtes Huhn. Sie fraß nur langsam. Aber sie fraß.
In der Nacht bellte sie im Schlaf. Leise. Als würde sie jemanden rufen.
Klaus setzte sich auf den Boden neben sie. Legte seine Stirn an ihren Rücken.
„Warte noch, Mädchen. Nur noch einmal.“
Am Morgen suchte er das Jugendamt. Dort war die erste Antwort routiniert, kalt.
„Datenschutz. Ohne familiären Bezug können wir keine Auskunft geben.“
Klaus legte den Brief auf den Tresen. Das Foto daneben.
Dann schob er langsam Friedas medizinische Unterlagen hin. Der Tierarzt hatte sie mitgegeben. Dort stand es schwarz auf weiß.
Diagnose: Osteosarkom. Letztes Stadium.
Die Frau hinterm Schreibtisch wurde still.
Sie nahm sich die Zeit, las den Brief. Und dann sah sie ihn an. Lange.
„Warten Sie hier.“
Nach zwanzig Minuten kam sie zurück.
„Jonas arbeitet heute in einer Schreinerei in Durlach. Seit drei Jahren. Er hat niemanden. Er redet wenig. Aber… vielleicht ist er bereit.“
Klaus nickte.
„Ich werde ihn nicht drängen. Sie soll ihn nur sehen.“
Zwei Stunden später parkte er den Wagen vor einer alten Werkstatt. Holzduft lag in der Luft. Ein junger Mann schleppte Bretter über den Hof.
Rotblondes Haar. Breite Schultern. Und Augen, die nichts verrieten.
Klaus stieg aus.
Frieda lag still auf der Rückbank. Zu schwach, um zu stehen.
Klaus öffnete die Tür, zog langsam die Decke zurück.
Der junge Mann war stehen geblieben. Starrte. Dann ließ er die Bretter fallen.
Seine Schritte waren zögerlich. Aber fest.
Er trat näher. Sah ihr Gesicht. Das graue Fell. Die Augen, alt, aber wach.
Dann geschah etwas. Ganz still.
Jonas kniete sich hin.
Berührte ihre Pfote.
Und flüsterte:
„Du bist wirklich gekommen.“
Keine Tränen. Nur Stille. Und Ehrfurcht.
Klaus trat einen Schritt zurück.
Er wusste: Dieser Moment gehörte nicht ihm.
Frieda bewegte sich kaum. Aber sie hob den Kopf. Und leckte über Jonas’ Hand.
Jonas schloss die Augen.
„Ich habe so oft gedacht, du wärst tot.“
Klaus sagte leise:
„Sie hatte noch einen Ort. Einen letzten.“
Jonas setzte sich auf die Kante der Rückbank.
„Ich dachte, ich hätte sie mir eingebildet. Dass niemand so treu bleibt.“
Klaus reichte ihm den alten Brief.
„Das hier hat sie zu dir geführt.“
Jonas las. Die Lippen bewegten sich stumm.
Dann faltete er ihn, steckte ihn in die Brusttasche.
„Ich möchte sie mitnehmen. Nur für heute Abend. Nur für einen letzten Spaziergang.“
Klaus zögerte.
Dann nickte er.
„Aber ich komme um sieben. Versprich mir, dass du sie nicht allein lässt.“
Jonas sagte nur:
„Das werde ich nie wieder.“
Als Klaus um sieben zurückkehrte, stand Jonas allein im Hof und in seinem Arm trug er etwas, das in eine Decke gewickelt war.