🐾 Teil 5: Die Stunde im Park
Der Hof war leer. Kein Licht brannte in der Werkstatt, nur das letzte Gold der Abendsonne lag auf dem Pflaster.
Klaus stieg langsam aus dem Auto. Seine Beine zitterten. Nicht vor Kälte, sondern vor etwas anderem. Angst vielleicht.
Jonas stand da, in einem blauen Pullover, der an den Ärmeln ausgefranst war. In seinen Armen lag Frieda, eingewickelt in eine Decke mit Karomuster.
Klaus hielt den Atem an.
„Ist sie…?“
Jonas schüttelte den Kopf.
„Sie schläft. Aber sie ist schwächer geworden. Sehr schwach.“
Er trat einen Schritt näher.
„Wir waren im Park. Dort, wo ich früher immer allein war. Sie hat sich neben mich gelegt. Kein Wort war nötig.“
Klaus nahm ihr Gewicht in die Arme. Sie war warm, aber ihr Körper fühlte sich anders an. Leicht wie Papier, als ob die Zeit sie Stück für Stück auflöste.
Im Gästezimmer der kleinen Pension legte er sie vorsichtig aufs Bett. Jonas stellte sich ans Fenster, blickte hinaus.
„Ich hab geglaubt, sie hätte mich vergessen“, sagte er leise.
„Aber sie hat mich gefunden. Und ich… ich hab wieder etwas gespürt.“
Klaus setzte sich. Die Hände auf den Knien.
„Frieda vergisst niemanden. Nicht, wenn du ihr etwas gegeben hast.“
Jonas drehte sich um.
„Ich wollte damals, dass sie bleibt. Aber sie kam nicht mehr. Ich dachte, sie hätte mich im Stich gelassen.“
Klaus schüttelte den Kopf.
„Sie durfte nicht. Nach dem Umzug hat man den Kontakt abgebrochen. Marlene hat oft gefragt, was mit dir geschehen ist.“
Jonas sah zu Boden.
„Ich hab lange gedacht, ich bin niemand. Jetzt weiß ich – ich war jemand. Für sie.“
Frieda hob kurz den Kopf. Ihre Augen blickten zu Jonas. Dann zu Klaus. Dann fielen sie wieder zu.
In dieser Nacht schlief keiner von ihnen.
Klaus saß mit Jonas im Flur. Zwei alte Männerseelen in unterschiedlichen Körpern. Verbunden durch einen Hund, der schweigend mehr sagte als tausend Worte.
Am Morgen roch die Luft nach Herbst. Frieda atmete langsam, aber gleichmäßig. Sie konnte nicht mehr stehen. Doch als Jonas ihre Pfote nahm, zuckte sie leicht.
Er küsste sie auf die Stirn.
„Ich geh jetzt. Aber ich danke dir. Für alles.“
Klaus brachte ihn zur Tür. Die Hände zitterten ihm.
„Wirst du klarkommen?“
Jonas nickte.
„Ich hab jetzt ein Foto. Einen Brief. Und das Gefühl, dass jemand noch an mich glaubt.“
Sie verabschiedeten sich ohne große Worte. Und doch war alles gesagt.
Am Nachmittag saß Klaus allein am Bett. Er sprach mit Frieda, leise, fast flüsternd.
„Es sind nicht mehr viele Orte. Nur noch einer.“
Er zog die letzte Karte aus dem Umschlag. Darauf: ein Garten in Lüneburg. Dort hatte Frieda einst ein Kind mit Epilepsie begleitet. Ein halbes Jahr lang, bis die Familie umzog.
Das Mädchen hieß Lina. Damals sieben.
Heute? Vielleicht erwachsen.
Sie fuhren früh los. Die Strecke war lang, aber Klaus fuhr langsam. Frieda schlief die meiste Zeit. Nur einmal hob sie den Kopf, als sie an einem Apfelstand vorbeifuhren.
„Das erinnerst du noch, was?“
Sie blinzelte. Mehr nicht.
In Lüneburg angekommen, fand Klaus das Haus sofort. Der Garten war verwildert, aber der Zaun noch derselbe.
Er klingelte.
Eine Frau öffnete. Jung, aber nicht mehr Kind.
Ihre Augen waren groß, hell. Und als sie Frieda sah, fiel ihr der Atem aus dem Gesicht.
„Das… das ist sie.“
Klaus nickte.
„Sie wollte dich noch mal sehen.“
Die junge Frau ließ sie eintreten. Im Wohnzimmer roch es nach Tee und alten Büchern.
„Ich bin Lina“, sagte sie.
„Meine Eltern sind nicht mehr hier. Aber ich… ich habe Frieda nie vergessen.“
Sie setzten sich. Klaus legte Frieda auf eine Decke neben das Sofa.
„Du warst die Erste, die nicht erschrak, wenn ich zuckte. Du hast mich gehalten, obwohl ich gezittert hab.“
Frieda öffnete die Augen. Schaute zu Lina.
Die junge Frau schluckte.
„Weißt du noch, wie du dich auf mein Bett gelegt hast, wenn ich Angst hatte?“
Klaus sah, wie sich Friedas Brust hob. Langsam. Schwer. Aber sie hörte zu.
Lina stand auf. Kam mit einem gerahmten Foto zurück.
Frieda und sie, im Garten. Beide lachend. Die Sonne auf ihren Gesichtern.
„Ich wollte dir das geben. Für immer.“
Sie stellte es neben Frieda. Die Pfote zuckte. Nur ein winziges Beben.
Dann passierte etwas.
Ein leises Klopfen.
Nicht an der Tür. Sondern im Flur.
Lina ging hinaus. Kam zurück mit einem kleinen Jungen an der Hand.
„Mein Sohn. Ben.“
Der Junge trat näher. Vorsichtig. Dann kniete er sich hin.
„Mama hat gesagt, du hast sie mal beschützt.“
Frieda hob den Kopf. Ganz langsam.
Ihre Zunge fuhr über Bens Finger. Nur ein Hauch.
Dann fiel ihr Kopf wieder auf die Decke.
Klaus spürte, wie sich etwas in seinem Brustkorb zusammenzog.
Die Luft im Raum wurde still.
Ben sah sie an.
„Geht sie jetzt fort?“
Lina antwortete nicht. Aber sie hielt seine Hand.
„Sie hat ihren Teil erfüllt. Jetzt darf sie gehen.“
Klaus beugte sich zu ihr. Legte das Foto von früher neben ihr Ohr.
„Du hast sie alle gefunden, Frieda. Alle. Ich weiß nicht, wie. Aber du hast es getan.“
Ihre Atmung war kaum mehr spürbar.
Er nahm ihre Pfote.
„Wenn du willst, darfst du jetzt loslassen. Ich bin da.“
Und dann, ganz leise, kaum hörbar, veränderte sich etwas in ihrer Haltung.
Nicht ein Erschrecken. Kein Kampf.
Nur ein leises Sinken.
Wie ein Blatt, das im Herbst zu Boden fällt.
Doch gerade als Klaus sich vorbeugte, um den letzten Atem zu spüren, da…
da bewegte sich ihre andere Pfote.
Ruckartig.
Und sie bellte.
Ein einziger, heller Ton.
Klaus fuhr hoch.
Frieda stand. Auf allen Vieren. Schwankend, aber wach.
Ihr Blick war auf das Fenster gerichtet.
Draußen: eine Frau. Alt. Dünn. Einen Hund an der Leine. Und in der anderen Hand – ein Zettel.
Die Frau trat an den Gartenzaun und sagte: „Ich hab nach ihr gesucht. Seit zehn Jahren.“