🐾 Teil 6: Die Frau am Zaun
Die Frau stand still. Ihre Hand zitterte. Der Hund an ihrer Leine, ein alter Terrier, blickte unruhig in den Garten.
Frieda hatte sich aufgerichtet. Ihre Augen klarer als je zuvor in den letzten Tagen. Klaus konnte kaum glauben, was er sah.
„Ich hab nach ihr gesucht“, wiederholte die Frau.
„Zehn Jahre lang. Ich dachte, sie wär tot.“
Klaus ging zum Zaun.
„Kommen Sie rein. Bitte.“
Sie trat langsam durch das Gartentor. Ihre Bewegungen waren vorsichtig, wie bei jemandem, der lange nicht mehr unter Menschen war.
Der Terrier winselte leise.
„Mein Name ist Elsa Brecht“, sagte sie, während sie den Zettel aus der Tasche zog. „Ich war damals ehrenamtlich im Kinderheim in Donaueschingen. Frieda war dort… naja, mehr als nur ein Therapiehund.“
Sie blieb stehen. Schaute Frieda an, als sähe sie ein Gespenst.
„Ich hab sie einmal mitgenommen. Nur für einen Tag. Ein Ausflug mit den Kindern. Und da war dieser Junge…“
Klaus nickte langsam.
„Jonas. Wir haben ihn gefunden.“
Elsa schloss die Augen.
„Ich hatte ihn verloren. Und sie. Alles ging so schnell. Der Bus kam zu spät, ein Kind war krank. Ich musste zurück. Frieda war plötzlich weg. Man sagte, sie sei weggelaufen. Aber ich wusste – sie ist ihm gefolgt.“
Sie setzte sich vorsichtig auf die Bank im Garten.
„Danach durfte ich nicht mehr kommen. Man gab mir die Schuld. Ich hab Briefe geschrieben. Aber nie eine Antwort.“
Lina hörte stumm zu. Ihr Sohn Ben saß auf der Treppe und streichelte Friedas Rücken. Der Terrier der Frau winselte wieder, doch Frieda würdigte ihn keines Blickes. Ihre Augen ruhten auf Elsa.
„Ich weiß nicht, warum ich heute herkam“, sagte Elsa schließlich. „Ich hab nur dieses Bild gefunden. Im alten Umzugskarton. Und plötzlich… wusste ich, dass ich sie noch einmal sehen muss.“
Sie reichte Klaus den Zettel.
Darauf stand nur:
„Wenn sie noch lebt, wird sie dich finden.“
Klaus erkannte die Handschrift.
Es war Marlene.
Sein Herz schlug schneller.
„Woher haben Sie das?“
Elsa sah ihn an.
„Ich kannte Ihre Frau. Nicht gut, aber wir haben uns damals bei einem Ehrenamtstag getroffen. Sie sprach oft von Frieda. Sie war stolz auf sie, wie auf ein eigenes Kind.“
Klaus schwieg lange. Dann sagte er leise:
„Marlene hat vieles geahnt, was ich nie sehen wollte.“
In der Stille, die folgte, hörten sie das Atmen der beiden Hunde. Frieda lag nun wieder. Aber sie wirkte wach. Wie jemand, der nicht mehr schläft, sondern lauscht.
Elsa beugte sich vor.
„Darf ich sie berühren?“
Klaus nickte.
Sie legte vorsichtig eine Hand auf Friedas Stirn. Dann zog sie ein kleines Lederband aus der Tasche. Daran hing ein altes, abgegriffenes Medaillon.
„Ich wollte, dass sie das bekommt. Ich habe es nie abgelegt, bis heute.“
Sie öffnete es. Drinnen: ein winziges Foto von Frieda als Junghund, eingerollt neben Jonas im Gras.
„Ich habe dieses Bild immer bei mir getragen. Es war das Letzte, was mir von damals blieb.“
Klaus nahm das Medaillon, betrachtete es.
„Vielleicht ist es Zeit, dass es zu ihr zurückkehrt.“
Er legte es ihr um den Hals.
Frieda blinzelte. Und ihre Pfote bewegte sich. Nur einen Fingerbreit. Aber es war genug.
Elsa lächelte. Tränen liefen ihr über das Gesicht.
„Danke, dass ich das noch sehen durfte.“
Am Abend kochte Lina eine Suppe. Sie aßen schweigend, nur Ben erzählte von der Schule, von seinem Hamster und davon, dass Frieda besser sei als jedes Spielzeug.
Später brachte Klaus Frieda vorsichtig ins Auto. Sie war sehr ruhig. Kein Zittern. Aber auch keine Bewegung. Er deckte sie zu, streichelte ihren Kopf.
Elsa stand zum Abschied neben dem Wagen.
„Ich weiß nicht, wie viel Zeit sie noch hat. Aber ich glaube, sie weiß, dass es vollendet ist.“
Klaus nickte.
„Vielleicht. Vielleicht fehlt aber auch noch etwas.“
Sie reichten sich die Hand. Kurz, fest.
Auf der Rückfahrt nach Wangen war Klaus still. Das Radio blieb aus. Frieda schlief. Oder ruhte. Vielleicht träumte sie. Vielleicht reiste sie schon halb.
Zuhause angekommen, trug er sie vorsichtig ins Haus. Legte sie auf das Sofa unter dem Fenster. Der Apfelbaum draußen war schon gelb geworden.
Er setzte sich daneben. Nahm das alte Album aus dem Regal. Blätterte durch die Jahre. Frieda mit Marlene. Frieda mit den Enkeln. Frieda im Schnee, im Gras, in Marlenes Armen.
Er blieb an einem Bild hängen.
Es zeigte einen Jungen mit einem Fahrrad. Er stand neben Klaus’ Gartenzaun. Und Frieda saß neben ihm. Der Junge war fremd. Kein Name vermerkt. Kein Datum.
Klaus erinnerte sich dunkel. Ein Sommertag. Der Junge war öfter dagewesen, hatte nie gesprochen. Frieda aber war ihm immer entgegengelaufen.
Er legte das Album zur Seite.
War da noch jemand?
Er stand auf, ging ins Arbeitszimmer. Dort lag der Karton mit den Briefen. Eine Liste war beigelegt – von Marlene. Handschriftlich.
Letzter Punkt:
„Der Junge aus dem Süden. Der nie sprach. Frieda hat ihn nie vergessen.“
Kein Name. Keine Adresse. Nur diese Zeile.
Klaus setzte sich. Blickte auf die Uhr.
Draußen war es dunkel. Drinnen roch es nach altem Holz und Abschied.
Frieda schlief noch immer. Ihre Atmung flach, aber rhythmisch. Er zog die Decke höher. Dann flüsterte er:
„Wenn du mir zeigst, wohin, fahr ich. Egal wie weit.“
Er schlief auf dem Stuhl ein, den Kopf gegen die Wand gelehnt.
Er träumte von einem Zug. Frieda saß darin. Allein. Aber sie blickte zurück. Durch das Fenster. Und wartete.
Am nächsten Morgen war der Himmel klar. Blauer als an jedem anderen Tag.
Frieda stand an der Tür.
Nicht laut. Nicht fordernd.
Nur wartend.
Klaus zog die Jacke an. Den Schlüssel aus der Schale.
„Dann zeig es mir, Mädchen. Zeig mir, wohin.“
Frieda lief nicht zum Auto. Sie lief den Hügel hinauf dorthin, wo Marlene früher nie hinwollte.