Friedas letzter Sommer | Ein sterbenskranker Hund, ein alter Mann und eine letzte Reise, die Herzen verändert

🐾 Teil 7: Der Hügel über dem Dorf

Frieda ging langsam. Ihre Bewegungen waren vorsichtig, aber zielgerichtet. Sie hielt den Kopf tief, als würde sie den Weg riechen. Die Morgensonne brach durch die Bäume, wärmte das feuchte Gras.

Klaus folgte ihr. Die Beine schmerzten. Doch er sagte kein Wort. Er kannte diesen Weg, auch wenn er ihn seit Jahren gemieden hatte.

Der Hügel lag oberhalb des alten Dorfrandes, dort, wo die Kastanien wachsen und die Wiese nie gemäht wird. Marlene war nie gern hierher gekommen. Zu offen, hatte sie gesagt. Zu leer.

Doch Frieda hatte es geliebt. Als Welpe hatte sie sich dort gewälzt, Marienkäfer gejagt, im hohen Gras geschlafen.

Sie erreichten die erste Baumgruppe. Klaus musste stehen bleiben, atmete schwer. Frieda drehte sich kurz um. Wartete. Dann ging sie weiter.

Hinter der letzten Biegung öffnete sich die Landschaft. Grüne Weite, ein einzelner Baum, dahinter das Tal. Frieda blieb stehen. Schaute.

Klaus trat neben sie. Und sah es.

Ein Holzschild, verwittert, schief. Darauf stand, in handgeschnitzten Buchstaben:

„Für den, der schweigt. Für den, der bleibt.“

Er kniete sich hin. Das Schild war an einem kleinen Stein befestigt. Daneben: ein Glas mit alten Knöpfen. Ein zerfleddertes Stofftier. Und ein Foto.

Ein Junge. Vielleicht zwölf. Blass, dünn. Und Frieda neben ihm.

Klaus fuhr sich durchs Gesicht.
„Wer war das, Mädchen?“

Frieda legte sich hin. Kein Zittern. Kein Stöhnen. Nur Stille.

Klaus setzte sich neben sie. Das Gras war kalt, aber weich.
Er nahm das Foto in die Hand. Dreht es um. Auf der Rückseite stand:

„Danke, dass du mich nicht verjagt hast.“

Keine Unterschrift. Kein Datum. Nur diese Zeile.

Er erinnerte sich an den Sommer. Der Junge war oft am Rand des Grundstücks gestanden. Sprach nie. Kam nie näher. Frieda aber war zu ihm gegangen. Immer wieder. Ohne Scheu.

Marlene hatte eines Tages einen Korb mit belegten Broten gepackt. Ihn an den Zaun gehängt.

„Wenn er ihn nimmt, will er leben“, hatte sie gesagt.

Der Korb war am nächsten Tag leer gewesen.

Klaus fuhr sich über die Augen.
„Ich hab ihn vergessen.“

Frieda hob den Kopf. Schaute ins Tal. Die Sonne stieg höher.

Neben dem Schild lag ein zerknitterter Zettel. Vom Wind geschützt unter einem Stein.

Klaus hob ihn auf. Las:

Sie war die Einzige.
Die Einzige, die nicht wegschaut.
Wenn ihr sie findet, sagt ihr: Ich bin noch da.
Und ich hör nicht auf, dankbar zu sein.

Der Name fehlte. Doch es war klar, Frieda hatte ihn nicht vergessen. Und er sie auch nicht.

Klaus stand auf, ging ein paar Schritte. Der Wind roch nach Äpfeln, nach Erde, nach Herbst.

Dann sah er es.

Hinter dem Baum, fast verborgen: ein kleiner Holzkasten. Darin: ein Gästebuch. Feucht, vergilbt, aber lesbar.

Die erste Seite:
„Gedenkort für alle, die in der Stille wachsen mussten.“

Dutzende Einträge. Handschriften aller Art. Sätze wie:

„Du hast mich angesehen, obwohl ich mich schämte.“

„Dein Schweigen war wärmer als jedes Wort.“

„Ich lebe noch. Weil du kamst.“

Klaus schlug die letzte Seite auf. Leer.
Er nahm den Bleistift, der daran hing, und schrieb:

„Sie ist wieder hier. Für euch. Für immer.“

Dann legte er das Buch zurück. Schloss die Kiste.
Und setzte sich zu Frieda.

Sie atmete ruhig. Ihre Augen halb geschlossen. Die Sonne wärmte ihr Gesicht.

„Du hast sie alle gefunden“, sagte Klaus leise.
„Und ich… ich durfte es mit dir sehen.“

Sie hob die Pfote. Berührte kurz seinen Schuh.
Dann ließ sie los.

Sie schlief ein. Ganz einfach. Ohne Laut.

Klaus spürte, wie der Moment kam. Wie die Luft sich veränderte.

Er legte seine Hand auf ihre Flanke.
„Danke, dass du geblieben bist.“

Doch dann ein Geräusch.

Ein Knacken im Gras. Schritte.
Klaus blickte auf.

Ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, stand da. Dünne Zöpfe, schmutzige Jeans.
Sie sah Frieda. Dann Klaus.

„Darf ich bei ihr sitzen?“

Klaus nickte.
„Wie heißt du?“

„Emily“, sagte sie.

Sie setzte sich schweigend. Legte eine Eichel neben Friedas Pfote.

„Ich hab sie hier oft gesehen. Ganz früh. Immer allein. Ich dachte, sie wär ein Geist.“

Klaus schmunzelte.
„Vielleicht war sie beides.“

Emily schwieg. Dann sah sie ihn an.
„Darf ich morgen wiederkommen?“

„Natürlich.“

Sie blieb noch eine Weile. Dann stand sie auf und ging.

Klaus blieb allein mit Frieda. Der Wind wurde stärker. Die Wolken kamen zurück.

Er wusste, was zu tun war.

Am nächsten Tag baute er ein kleines Holzkreuz. Sorgfältig. Mit ruhigen Händen.

Er schrieb ihren Namen ein.

Frieda
2009 – 2025
Freundin. Wächterin. Licht.

Er grub ein kleines Grab, dort unter dem Baum, neben dem Schild.

Legte ihre Decke hinein. Ihre Leine. Das Medaillon. Und dann sie selbst.

Kein Sarg. Kein Stein. Nur Erde, Laub, Zeit.

Als er fertig war, legte er die Hand auf den Hügel.
„Du bist nicht fort. Du bist nur heimgegangen.“

Beim Rückweg durch das Gras blieb er stehen.
Emily war wieder da. Und hinter ihr, noch zwei Kinder.
Dann vier. Dann sechs.

Sie trugen kleine Zettel. Bilder. Steine.

Er sagte nichts. Und verstand.

Friedas letzter Sommer war nicht vorbei.

Er hatte gerade erst begonnen.


Doch als Klaus am Abend nach Hause kam, lag auf seiner Türschwelle ein Brief in Marlenes Handschrift.

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