🐾 Teil 8: Der Brief unter der Tür
Die Haustür war geschlossen, wie immer. Kein Windhauch, kein Geräusch. Nur der späte Abendhimmel, der in Pastellfarben über dem Allgäu hing.
Klaus beugte sich hinunter. Der Umschlag lag schief zwischen Tür und Schwelle. Kein Absender. Nur sein Name, von Hand geschrieben: Klaus.
Die Schrift war vertraut. Runde Buchstaben, leicht geneigt. Er hatte sie auf Einkaufslisten gesehen, auf Geburtstagskarten, auf den kleinen Zetteln, die Marlene ihm ans Frühstück gelegt hatte.
Aber Marlene war seit zwölf Jahren tot.
Er hob den Brief auf. Das Papier war trocken, aber leicht vergilbt. Die Tinte blass. Er öffnete den Umschlag mit vorsichtigen Fingern, als könne er dabei einen letzten Hauch ihres Duftes einfangen.
Mein lieber Klaus,
wenn du diesen Brief liest, dann ist Frieda vielleicht schon fort. Oder sie liegt noch bei dir. Vielleicht schläft sie. Vielleicht atmet sie nur noch flach.
Ich wusste, dass es so kommen würde. Dass du irgendwann allein bist, und sie die Letzte, die dir noch zuhört.
Deshalb habe ich geschrieben. Für dich. Für euch. Für das, was war – und das, was kommen soll.
Ich habe Frieda nie als Hund gesehen. Sie war für mich eine Seele, die auf uns gewartet hat.
Sie hat mehr verstanden als wir alle zusammen.
Und ich glaube, sie hat einen letzten Wunsch.
Klaus setzte sich auf den Flurtritt. Die Worte rannen durch ihn hindurch wie ein ferner Bachlauf. Er hielt den Brief dichter ans Gesicht.
Es gibt einen Ort, den du nie betreten hast. Ich weiß das.
Du bist nie zurück nach Lindau gefahren. Seit Papa gestorben ist.
Aber du musst. Dort liegt etwas, das dir helfen kann.
Nicht ein Geheimnis. Sondern ein Schlüssel.
Frag im alten Kloster nach Schwester Agnes.
Sag ihr meinen Namen.
Und nimm Friedas Medaillon mit.
Ich liebe dich. Immer.
M.
Er faltete das Blatt nicht. Er ließ es in den Schoß sinken und starrte auf die Straße. Es war still. Nur der Wind im Apfelbaum sprach zu ihm.
Lindau.
Seit vierzig Jahren war er nicht mehr dort gewesen. Die Kindheit. Die dunklen Jahre. Der Vater, der nie lobte. Die Mutter, die schwieg. Und doch es war auch der Ort, an dem Marlene ihm zum ersten Mal begegnet war.
Damals hatte er ihre Stimme durch ein offenes Fenster gehört. Sie sang leise. Ein Lied, das er nicht kannte.
Jetzt stand er auf. Langsam. Legte den Brief auf den Tisch. Dann ging er nach oben, holte Friedas Medaillon, das er bei ihrer Ruhestätte abgelegt hatte.
Er wusste nicht warum. Aber er holte es. Wickelte es in ein Stofftaschentuch. Steckte es in die Jackentasche.
Am nächsten Morgen saß er im Zug nach Lindau. Er wollte nicht fahren. Und doch musste er.
Im Abteil roch es nach altem Leder, nach Kaffee und Herbstluft. Er hielt den Brief auf den Knien. Schaute aus dem Fenster.
Die Landschaft zog vorbei wie ein vergilbter Film. Wiesen. Höfe. Wälder.
Er sah Frieda überall. Wie sie den Kopf aus dem Fenster streckte. Wie sie auf dem Sitz lag. Wie sie ihn ansah.
Er lächelte. Zum ersten Mal seit Tagen.
In Lindau war der Himmel grau. Das Wasser des Bodensees lag still. Und doch vibrierte etwas in der Luft. Eine Erwartung, wie vor einem Gewitter.
Klaus ging langsam die Uferstraße entlang. Das Kloster lag hinter dem alten Stadttor, verborgen zwischen zwei Linden. Eine kleine Tür, ein Klingelschild aus Messing: Dominikanerinnen.
Er drückte auf die Glocke. Ein Summen. Dann ein Klicken.
Drinnen roch es nach Stein und Wachs. Der Boden war kühl. Eine junge Schwester empfing ihn, führte ihn wortlos durch einen Gang.
Am Ende stand eine Frau in dunkler Kleidung. Weißes Haar, klare Augen.
„Sie sind Herr Bergmann?“
Er nickte.
„Ich soll nach Schwester Agnes fragen.“
Die Frau trat näher.
„Ich bin Agnes.“
Er zog das Medaillon aus der Tasche. Reichte es ihr.
Sie sah es. Und ihre Augen wurden weich.
„Ich habe es erwartet.“
Klaus schluckte.
„Marlene hat es mir gesagt. In einem Brief.“
Agnes bat ihn in einen kleinen Raum. Ein Holztisch, zwei Stühle, eine Kerze.
„Ihre Frau hat uns oft geschrieben“, sagte sie.
„Sie war früher manchmal hier. Als Kind. Und später, um zu sprechen. Sie hatte ein feines Gespür für das, was zwischen den Menschen liegt.“
Klaus nickte stumm.
Agnes öffnete eine Schublade. Holte ein kleines Buch hervor. Das Leder abgegriffen, der Einband mit Blüten bemalt.
„Das hat sie hier gelassen. Mit einer Anweisung: Erst übergeben, wenn Frieda gegangen ist.“
Sie reichte es ihm.
Klaus öffnete es. Die Seiten gefüllt mit Marlenes Handschrift.
Gedanken. Erinnerungen. Träume. Geschichten über Frieda.
Doch am Ende war eine letzte Seite. Mit einer einzigen Zeile:
„Und wenn du sie verlierst, Klaus, dann gib weiter, was sie war.“
Er schloss das Buch. Legte es an die Brust.
„Ich dachte, ich wäre fertig. Ich hab sie begraben. Ich hab Abschied genommen.“
Seine Stimme war rau.
Agnes sah ihn an.
„Manche gehen nicht, um zu enden. Sondern um zu beginnen.“
Er saß noch eine Stunde. Sagte nichts mehr. Schaute nur auf das Medaillon in seiner Hand.
Dann stand er auf.
„Danke“, sagte er.
„Fürs Warten.“
Draußen war es windig geworden. Herbstlaub fegte durch die Straßen.
Er lief am Ufer entlang. Setzte sich auf eine Bank. Die letzte Fähre fuhr vorbei.
Im Wasser spiegelte sich der Himmel.
Dann hörte er ein Geräusch.
Ein Hund bellte. Hoch. Drängend.
Klaus drehte sich um.
Ein Kind rannte über die Wiese. Und ein Hund hinterher. Aber nicht verspielend. Warnend.
Das Kind lief Richtung Kai. Keine Absperrung. Nur Wasser.
Klaus sprang auf. Rannte los.
Das Kind rutschte. Rief nicht. Riss nur die Arme hoch.
Und dann aus dem Nichts war der Hund da.
Schwarz. Weiß. Breit gebaut. Und doch: nicht Frieda.
Aber er bellte wie sie. Bewegte sich wie sie. Schaute ihn an – wie sie.
Das Kind wurde gehalten. Gerettet. Der Hund keuchte. Doch er hielt durch.
Die Mutter kam gerannt. Tränen. Umarmung. Dank.
Klaus kniete nieder. Der Hund kam zu ihm. Leckte seine Hand.
Ein Junge, vielleicht zwölf, trat näher.
„Er hat keinen Namen“, sagte er.
„Er folgt mir, seit ich ihn gefunden hab. Vor zwei Tagen. Ich glaub, er sucht was.“
Klaus streichelte das Fell.
Warm. Rau. Echt.
„Vielleicht hat er es jetzt gefunden.“
Am nächsten Morgen saß der Hund vor Klaus’ Tür und im Halsband hing Friedas Medaillon.