Friedas letzter Sommer | Ein sterbenskranker Hund, ein alter Mann und eine letzte Reise, die Herzen verändert

🐾 Teil 9: Der zweite Blick

Er saß auf der Bank vor dem Haus. Die Sonne war gerade aufgegangen, ein milder, goldener Schein legte sich über die Felder. Die Tür stand offen. Drinnen roch es nach Kaffee, draußen nach feuchtem Gras.

Der Hund saß still vor der Schwelle.

Nicht bellend. Nicht bettelnd. Einfach da.

Sein Fell war nicht glatt, sondern struppig. Die weiße Brust erinnerte an Frieda. Auch der Blick – wach, geduldig, wartend.

Aber das Halsband war fremd.

Nur das Medaillon war vertraut.

Klaus stand langsam auf. Die Knie knirschten. Er ging die drei Stufen hinab, setzte sich neben den Hund. Der drehte leicht den Kopf, leckte über seine Hand.

„Wo kommst du her?“

Keine Antwort. Nur ein leises Schnaufen.

Klaus nahm das Medaillon vorsichtig in die Finger. Das Lederband war verschmutzt, aber unversehrt.

Er öffnete es.

Drinnen: das Bild von Jonas und Frieda. Unverändert.

Aber jetzt lag ein neuer Zettel darin.

Klein gefaltet, eingerollt. Die Schrift zitternd, als wäre sie mit kalter Hand geschrieben.

„Ich geb’s weiter. Sie hat mich gefunden – jetzt geb ich sie dir zurück.“

Kein Name. Keine Unterschrift.

Klaus streichelte den Hund.
„Hat sie dich geschickt? Oder warst du schon da?“

Der Hund legte sich hin. Direkt vor die Schwelle. Als würde er dazugehören.

Klaus ging hinein. Kochte Kaffee. Schnitt zwei Scheiben Brot, legte eine für den Hund vor die Tür.

Er fraß nicht. Schaute nur.

Erst als Klaus sich mit der zweiten Tasse auf die Stufe setzte, begann der Hund zu kauen.

„Ich weiß nicht, ob du bleiben willst“, sagte Klaus.
„Aber du kannst. So lange du willst.“

Den Rest des Tages blieb der Hund in der Nähe. Er folgte Klaus in den Garten, lief neben ihm her, wartete, wenn er anhielt.

Am Abend legte er sich an die Stelle unter dem Apfelbaum. Genau dort, wo Frieda zuletzt gelegen hatte.

Klaus stellte eine Decke daneben. Und das alte Medaillon auf einen Stein.

Er sagte nichts. Musste er nicht.

In der Nacht träumte er. Kein Wort. Nur Bilder. Frieda, wie sie über eine Brücke ging. Und am anderen Ende wartete ein Kind. Und der Hund. Und Marlene.

Am nächsten Morgen war das Medaillon verschwunden.

Klaus fand es später in der Küche. Neben seinem Frühstücksteller.

Als hätte es jemand dort hingelegt.

Der Hund saß wie jeden Morgen an der Tür.

Er nannte ihn nicht beim Namen. Noch nicht. Es fühlte sich nicht richtig an. Noch nicht.

Aber er sprach mit ihm. Von Frieda. Von Jonas. Von Lina. Von Emily. Von Marlene.

Und der Hund hörte zu. Nicht wie Menschen zuhören – sondern tiefer. Still. Wach.

Eine Woche verging.

Die Kinder kamen jeden Tag zum Hügel. Man brachte Steine, Briefe, Blumen. Auch Erwachsene. Ein alter Mann mit einem Rollator. Eine junge Frau mit traurigem Blick. Ein Pfarrer. Eine Lehrerin.

Alle hatten etwas zu erzählen. Oder einfach nur zu sitzen.

Klaus war oft dabei. Manchmal mit dem Hund. Manchmal allein.

Er sprach nicht viel. Aber seine Augen sagten, dass er zuhörte.

Eines Abends, als der Nebel über den Feldern lag, kam ein Brief. Wieder ohne Absender. Wieder mit Handschrift.

Lieber Herr Bergmann,

Sie kennen mich nicht. Aber ich war damals im Heim. Ich erinnere mich an Frieda. Sie war wie ein Schatten, der wärmte.

Ich habe nie gelernt, zu reden. Aber ich habe schreiben gelernt.

Und jetzt schreibe ich Ihnen: Ich habe gelesen, was geschehen ist. Ich war oben am Hügel. Ich habe gesehen, wie Menschen wieder an etwas glauben.

Das haben Sie gemacht. Und sie.

Danke.

J.

Klaus faltete den Brief langsam zusammen.
J.

Jonas? Oder jemand anderes?

Vielleicht spielte es keine Rolle.

Am nächsten Tag standen sie zu zweit am Grab. Klaus und der Hund. Die Sonne brach durch die Wolken. Golden. Wie damals.

Klaus legte eine neue Blume hin. Eine weiße Rose.

„Ich glaube, es ist Zeit“, sagte er leise.
„Zeit, dir einen Namen zu geben.“

Der Hund drehte den Kopf. Schaute ihn an. Ganz ruhig.

Klaus zögerte.

Dann sagte er:
„Otto.“

Der Hund bellte. Nur einmal. Leise.

Klaus lachte. Zum ersten Mal richtig.
„Na also.“

Otto lief ein paar Schritte. Drehte sich um. Wartete.

„Du willst los? Wohin denn?“

Otto lief zum Weg. Dem kleinen Pfad Richtung Wald.

Klaus ging ihm nach.

Am Waldrand blieb Otto stehen. Dort, wo früher Marlene gern saß. Auf dem alten Baumstumpf. Klaus setzte sich, atmete tief.

Die Bäume rauschten.

Dann sah er es.

Ein altes Stück Papier, eingeklemmt zwischen zwei Ästen. Windgebleicht. Feucht. Und doch lesbar.

Wenn du hier sitzt, ist alles gut.

Ich wusste, dass du kommst.

Lass ihn bei dir.

Er trägt, was du nicht tragen kannst.

Keine Unterschrift. Keine Erklärung.

Aber Klaus verstand.

Frieda war gegangen.
Otto war gekommen.
Nicht als Ersatz. Nicht als Trost.

Sondern als Weiterträger.

Und plötzlich wusste er, was zu tun war.


Er stand auf, nahm Otto an die Leine, und sagte: „Komm, wir gehen noch einen letzten Brief austragen.“

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