🐾 Teil 10: Das letzte Geschenk
Der Morgen war still. Kein Wind, kein Vogelruf, nur das Geräusch seiner Schritte auf dem Kiesweg. Otto ging dicht an seiner Seite. Kein Ziehen, kein Zögern. Er schien zu wissen, wohin sie wollten.
Klaus trug den letzten Brief in der Jackentasche. Der Umschlag war alt, das Papier weich wie Stoff. Die Adresse war mit Bleistift geschrieben: Pflegestation St. Michael, Zimmer 12.
Es war Marlenes letzter Eintrag in ihrer Liste. Und der einzige Ort, zu dem Klaus nie gegangen war.
Er wusste nicht, wer dort wartete. Oder ob überhaupt noch jemand wartete.
Aber Frieda hatte es gewusst. Sie hatte die Spur gelegt. Jonas. Lina. Emily. Der stille Junge am Hügel. Alle hatten ihn zu diesem einen Punkt geführt.
Die Klinik lag am Rand der Stadt. Hinter ihr ein kleiner Park, vor ihr ein verwaister Spielplatz. Er klingelte. Eine junge Pflegekraft öffnete. Ihre Augen fielen sofort auf Otto.
„Er ist brav“, sagte Klaus. „Therapiebegleithund.“
Sie nickte, führte ihn durch den Gang.
„Zimmer zwölf? Da haben Sie Glück. Sie war heute ganz wach.“
Klaus blieb stehen.
„Sie?“
„Frau Wegener. Über neunzig. Kaum noch Sprache. Aber Tiere… bei Tieren wird sie ruhig.“
Sie öffnete die Tür.
Ein kleiner Raum. Hell. Ein Bett am Fenster. Darin eine schmale Gestalt, eingewickelt in Decken. Die Haut fast durchsichtig. Die Augen offen. Klar.
Otto ging zuerst. Vorsichtig. Kein Laut. Er legte sich neben das Bett. Legte den Kopf auf die Matratze.
Die alte Frau hob langsam die Hand. Streichelte sein Fell.
Dann drehte sie den Kopf. Schaute Klaus an.
Und sagte:
„Frieda?“
Er trat näher.
„Nein. Sie ist gegangen. Aber er trägt sie noch.“
Sie nickte. Eine Träne rollte über ihre Wange.
„Ich hab auf sie gewartet. So lang.“
Klaus setzte sich an die Bettkante.
„Wer sind Sie?“
Sie lächelte.
„Ich war die Mutter vom Jungen, der nie gesprochen hat.“
Seine Kehle schnürte sich zu.
„Er hat mir von ihr erzählt. Immer wieder. Ich hab ihm nie geglaubt. Und dann war er weg. Weg aus meinem Leben. Ich dachte, ich hätte ihn verloren. Für immer.“
Klaus reichte ihr den Brief.
„Er lebt. Er hat sie nicht vergessen. Und sie auch nicht.“
Sie las langsam. Wort für Wort. Dann presste sie den Brief an ihr Herz.
„Danke“, flüsterte sie. „Dass Sie gekommen sind.“
Otto hob den Kopf. Schaute Klaus an. Als wollte er sagen: Jetzt ist es vollbracht.
Eine Stunde später saßen sie draußen auf der Bank vor dem Haus. Die Sonne stand tief. Es roch nach Laub, nach Erde, nach einem Ende, das sich nicht wie ein Verlust anfühlte.
Klaus streichelte Ottos Kopf.
„Du hast das vollendet, was Frieda begonnen hat.“
Otto schloss die Augen. Lehnte sich an seine Seite.
Er dachte an all die Orte. Die Briefe. Die Menschen. Die Erinnerungen. Und spürte – es war nicht nur eine Reise des Abschieds gewesen. Es war eine Übergabe gewesen. Von Liebe. Von Hoffnung. Von Verantwortung.
Er stand auf. Langsam. Die Beine müde, aber sicher.
„Komm“, sagte er.
„Es gibt noch etwas, das wir tun müssen.“
Sie fuhren zurück. Nach Wangen. Am Abend erreichten sie den Hügel.
Kinder saßen dort. Und Erwachsene. Manche in Stille, manche im Gespräch. Ein Kreis hatte sich gebildet. Friedas Grab lag in der Mitte. Jemand hatte Blumen gepflanzt. Jemand anderes hatte eine kleine Bank aufgestellt.
Klaus trat hinzu. Otto blieb an seiner Seite.
„Darf ich etwas sagen?“, fragte er.
Die Menschen nickten.
Er trat vor das Grab.
„Sie war ein Hund“, begann er.
„Aber nicht nur. Sie war Verbindung. Zwischen dem Gestern und dem Heute. Zwischen den Stillen und den Lauten. Zwischen denen, die verloren haben, und denen, die nie gesucht wurden.“
Er holte einen letzten Brief hervor. Legte ihn auf den Grabstein.
„Das war ihr letzter Wunsch. Dass wir weitermachen.“
Otto trat nach vorn. Legte sich hin. Still. Ohne Geste. Ohne Aufforderung.
Klaus lächelte.
„Das ist Otto. Er trägt Frieda nicht in seinem Fell, sondern in seinem Blick. In seiner Ruhe. Und in dem, was er mitgebracht hat.“
Er drehte sich zum Publikum.
„Ich bin alt. Vielleicht zu alt für einen Neubeginn. Aber nicht zu alt, um weiterzugeben.“
Ein Junge trat vor. Vielleicht acht Jahre alt.
„Darf ich ihn mal führen? Nur ein Stück?“
Klaus nickte.
„Du darfst. Jeder darf.“
Und so begann etwas Neues.
Ein Kreis aus Kindern, Händen, Leinen. Otto in der Mitte. Ruhig, gelassen, bereit.
Als die Sonne unterging, saß Klaus allein auf der Bank.
Der Hügel war leer. Aber nicht einsam.
Er spürte den Wind auf der Haut. Und in diesem Wind glaubte er, eine Bewegung zu spüren.
Als würde sich etwas verabschieden.
Leicht. Ohne Schmerz. Ohne Angst.
Er flüsterte:
„Danke, Frieda. Für deinen letzten Sommer.“
Dann schloss er die Augen. Nur für einen Moment.
Und sah sie noch einmal.
Laufend. Frei. In einem Feld voller Licht.