Als sie an Heiligabend unseren Pastor im Rollstuhl in den Schnee schieben wollten
Die Leute erzählen heute gern, wir hätten damals „die Kirche umzingelt“.
Ich nenne es anders: Wir sind einfach aufgetaucht, als ein Mensch mit Familie im Winter vor die Tür gesetzt werden sollte – an Heiligabend.
Mein Name ist Ralf Seidel. Ich bin 64, gelernter Kfz-Meister, seit Jahrzehnten in einer kleinen Werkstatt im Ruhrgebiet. Früher war ich auch bei den Rettungsleuten im Ort dabei, ehrenamtlich, viel Nacht, viel Regen, viel Blaulicht.
Was man da lernt, ist simpel: Wenn jemand am Boden liegt, diskutiert man nicht lange. Man geht hin.
Wir waren an diesem Nachmittag zu dreiundvierzig. Keine „Outlaws“, keine großen Sprüche. Ehemalige Einsatzkräfte, Handwerker, Rentner, ein paar jüngere, die bei uns hängen geblieben sind.
Ein lockerer Kreis, den die Nachbarn „den Stammtisch“ nennen, weil wir uns einmal die Woche treffen. Manche fahren Motorrad, manche kommen mit dem Transporter. Wichtig ist nicht das Fahrzeug. Wichtig ist, dass man sich kennt – und dass man steht, wenn es brennt.
Heiligabend hatten wir unsere jährliche Geschenke-Fahrt hinter uns.
Wir bringen Spielsachen, warme Decken, Dinge, die sonst oft fehlen. Nicht an irgendeinen Ort mit großem Namen – einfach an die Kinderstation vom städtischen Krankenhaus. Ohne Foto-Show, ohne Werbung.
Danach fühlt man sich für ein paar Stunden wieder wie ein brauchbarer Mensch.
Dann klingelte Tommys Telefon.
Tommy heißt eigentlich Thomas, aber seit dreißig Jahren sagt niemand Thomas. Tommy ist 52, groß, breites Kreuz, und er kann leise werden wie ein Kind, wenn etwas ihn trifft.
Er nahm ab, hörte zwei Sekunden zu, und sein Gesicht verlor jede Farbe.
„Nele“, sagte er nur. „Das ist Nele.“
Nele ist seine Nichte, zwanzig, Studentin. Sie hilft oft in der kleinen Gemeinde am Ostpark, bei der Essensausgabe, beim Kaffee, bei der Kleiderkiste.
Ich hörte ihre Stimme durch den Lautsprecher – dünn, abgehackt, voller Tränen.
„Onkel… bitte… die räumen alles raus. Jetzt sofort. Der Vermieter ist da. Und… und der Gerichtsvollzieher…“
Sie holte Luft, als würde sie gegen Wasser kämpfen. „Sie schieben Pastor Lukas raus. Im Rollstuhl. Mira hat das Baby im Arm.“
In unserer Runde wurde es still. Selbst die Motoren, die eben noch knisterten, klangen auf einmal zu laut.
„Was heißt raus?“ fragte Tommy. Seine Stimme war nicht wütend. Sie war nur leer.
„Die sagen, wir müssen raus, weil wir Menschen hier schlafen lassen. Weil die Miete zu spät war. Der Vermieter lacht. Er sagt, das Viertel sei ‚anständig‘ und wir würden alles kaputt machen.“
Ich sah, wie Tommy die Lippen presste, so als müsste er etwas festhalten, das sonst aus ihm herausbricht.
Dann legte er auf und sagte nur einen Satz, so einfach, dass er wie ein Befehl klang:
„Kameraden. Wir haben ein Problem.“
Mehr brauchte es nicht.
Dreiundvierzig Leute bewegen sich nicht elegant. Sie bewegen sich wie eine Welle.
Jacken zu, Handschuhe an, Schlüssel drehen. Motorräder, Transporter, zwei Kombis.
Und dann fuhren wir los, durch nassen Schneematsch, Richtung Ostpark.
Dort stehen diese alten Gebäude, die früher Arbeit waren: eine stillgelegte Werkhalle, ein Lagerhaus mit eingeschlagenen Fenstern, dahinter Häuser mit dunklen Treppenhäusern.
Die kleine Gemeinde steckt in einem ehemaligen Ladenlokal. Früher war da mal ein Schreibwarenladen, später ein Billig-Kiosk, dann jahrelang nichts.
Vorne hängt ein handgemaltes Schild: „Hier ist Platz für alle.“
Als wir ankamen, sah ich zuerst die Sachen.
Kisten im Schneematsch. Decken. Ein zusammengeklappter Kinderwagen. Ein kleiner Holztisch, der schon bessere Zeiten gesehen hatte.
Und mitten drin: ein Mann im Rollstuhl, in einer dünnen Winterjacke, die ihm zu groß war.
Pastor Lukas Brandt. 39 Jahre alt. Unterhalb der Knie amputiert.
Nicht vom „Schicksal“, wie manche Leute flüstern – er war früher Sanitäter in einem Auslandseinsatz. Mehr Details braucht es nicht.
Er redet nicht gern darüber. Er redet lieber darüber, wie man die Suppe warm hält.
Neben ihm stand Mira, seine Frau. 28, blass, zitternd, ein Neugeborenes ganz eng an der Brust.
Sie hätte eigentlich liegen müssen. Das sah man jedem Schritt an.
Aber sie stand da im Schnee, weil man manchmal steht, auch wenn der Körper „Nein“ sagt.
Ein Mann im Mantel und mit glänzenden Schuhen stand vor ihnen, die Hände in den Taschen, als wäre das alles ein Theaterstück für ihn.
Neben ihm: ein Gerichtsvollzieher mit Aktenmappe und zwei Polizisten, jung, angespannt, Blick hin und her.
Der Mann im Mantel sagte gerade: „Selber schuld. Wer ein Gotteshaus in eine Herberge verwandelt, muss sich nicht wundern. Ich brauche ordentliche Mieter.“
Lukas hob das Kinn. Seine Stimme war ruhig, aber sie hatte diesen Ton, den Menschen haben, die gelernt haben, nicht zu betteln.
„Wir haben gezahlt. Ich habe die Belege.“
„Zwei Tage zu spät.“ Der Mann zuckte mit den Schultern. „Und außerdem: unerlaubte Übernachtungen. Das steht im Vertrag. Ende.“
Der jüngere Polizist räusperte sich. „Es ist Heiligabend. Vielleicht kann man—“
„Sie können Ihren Job machen“, schnitt der Vermieter ihn ab. „Das Gebäude wird leer. Ich habe Interessenten, die zahlen deutlich mehr. Und die bringen nicht das halbe Elend hier rein.“
Da hörte er unsere Motoren.
Es gibt einen Moment, wenn viele Fahrzeuge gleichzeitig ausrollen und dann Stille kommt.
Diese Stille hat Gewicht.
Nicht, weil wir gefährlich wären – sondern weil plötzlich klar wird: Jetzt schauen mehr Augen hin.
Der Vermieter drehte sich um, sah die Reihe von Leuten in Winterjacken, Lederwesten, Arbeitsstiefeln, und sein Lächeln rutschte kurz weg.
Dann setzte er es wieder auf, dünn wie Papier.
„Na wunderbar“, sagte er laut. „Jetzt fehlt nur noch der Zirkus.“
Ich stieg ab, langsam. Nicht drohend. Einfach präsent.
Links von mir Big Hannes, 1,95, grauer Bart, Dachdecker seit vierzig Jahren.
Rechts von mir Ibo, Elektriker, ruhige Hände, die schon ganze Straßenzüge wieder ans Licht gebracht haben.
Und hinter uns: die anderen. Dreiundvierzig.
„Guten Abend“, sagte ich. „Was passiert hier?“
Der jüngere Polizist sah erleichtert und überfordert zugleich aus. „Bitte bleiben Sie ruhig. Es läuft eine Räumung.“
„Eine Räumung braucht einen Titel“, sagte eine Stimme hinter mir.
Das war Gerd, 71. Wir nennen ihn manchmal „Sturm“, weil er nie laut ist – aber wenn er spricht, verändert sich die Luft.
Er war früher Bauleiter. Ein Mann, der Zahlen liest wie andere Menschen Wetter.
Der Vermieter schnaubte. „Ich habe hier ein Schreiben. Der Gerichtsvollzieher ist da. Also ist es legal.“
Tommy ging nicht zum Vermieter. Er ging direkt zu Lukas. Kniete sich neben den Rollstuhl, als gäbe es rundherum keine Zuschauer.
„Lukas“, sagte er leise. „Bist du okay?“
Lukas versuchte zu lächeln. „Ich war schon schlechter dran. Aber… Mira…“
Tommy sah Mira und das Baby an. „Wie alt?“
„Drei Tage“, flüsterte sie. „Ich soll eigentlich nicht mal—“ Sie brach ab, weil die Stimme versagte.
Tommy stand auf und drehte sich zum Vermieter.
„Sie setzen einen Mann im Rollstuhl raus. Mit einer Frau, die gerade entbunden hat. An Heiligabend.“
Der Vermieter hob die Hände, als wäre er der Vernünftige.
„Ich setze Mieter raus, die Regeln brechen. Ich lasse mich nicht erpressen von Tränendrüsen. Außerdem: Dieses Viertel—“
„—ist anständig“, fiel Nele ihm ins Wort, die gerade aus der Tür gerannt kam, rot im Gesicht, Hände voller Staub.
„Sie werfen drinnen alles weg! Die Krippe, die Kinderbilder, alles!“
Ich sah durch die offene Tür. Zwei Männer in Arbeitskleidung trugen tatsächlich Bänke raus, stapelten Zeug, als wäre es Sperrmüll.
Ein kleines Holzkreuz lag schief auf einem Haufen. Daneben ein Karton mit Zeichnungen, „Danke“ in krakeligen Buchstaben.
„Stopp“, sagte ich.
Der Vermieter lachte kurz. „Oder was? Wollen Sie mich anfassen? Bitte, machen Sie es. Dann wird’s richtig teuer.“
Er hatte recht: Hände helfen hier nicht. Hände machen alles schlimmer.
Aber es gibt andere Dinge als Hände.
Gerd trat einen Schritt vor.
„Wie viel fehlt?“, fragte er.
Der Vermieter blinzelte. „Wie bitte?“
„Die Summe“, sagte Gerd. „Was behaupten Sie, was offen ist?“
Der Vermieter straffte sich, froh, endlich wieder „Zahlen“ zu haben.
„Drei tausend Miete. Plus Gebühren. Und die Kaution behalte ich wegen Schäden. Und wenn die bleiben wollen, brauche ich gleich den nächsten Monat auch.“
„Also ungefähr…?“ fragte Gerd.
„Elf tausend“, sagte der Vermieter und grinste. „So was hat so eine kleine Gemeinde nicht.“
Gerd nickte nur. Zog sein Handy raus.
„Geben Sie mir die Kontodaten.“
Das Grinsen blieb hängen, wie ein Kaugummi, der nicht mehr klebt.
„Sie glauben doch nicht—“
„Doch“, sagte Gerd. „Ich glaube, dass ich überweisen kann.“
Der Vermieter machte große Augen, als er die Überweisung sah.
Und ich sah etwas, das ich an solchen Menschen oft sehe: Nicht Scham. Nicht Mitgefühl.
Nur Rechenarbeit.
„Das ändert nichts“, presste er dann. „Die haben trotzdem gegen den Vertrag verstoßen. Diese Übernachtungen. Das ist wie ein Obdachlosenheim hier!“
Lukas hob den Kopf. „Es ist Winter. Menschen frieren. Manche sind krank. Manche sind alt. Wir lassen niemanden auf dem Asphalt liegen.“
„Nicht mein Problem“, sagte der Vermieter.
Da trat Tommy einen Schritt vor, und seine Stimme zitterte. Nicht vor Angst. Vor Erinnerung.
„Ich war einer von denen“, sagte er. „Vor fünf Jahren. Ich hatte nichts. Keine Wohnung. Kein Plan. Nur Alkohol und Wut.“
Er schluckte. „Ich habe auf diesem Boden geschlafen. Lukas hat mir eine Decke gegeben. Kein Urteil. Keine Predigt. Nur: ‚Bleib heute hier. Morgen reden wir.‘“
Es wurde still.
Dann sagte jemand hinter mir: „Ich auch.“
Das war Hannes.
„Ich auch“, sagte Ibo.
„Und ich“, sagte Petra, eine kleine Frau mit kurzen Haaren, früher Krankenschwester, heute die Härteste von uns, wenn es um Kälte geht.
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