Heiligabend vor der Tür: 2.000 Kilometer weg, wo mein Herz wieder atmet

Mein Sohn hämmert gegen meine Tür in Erfurt. Er weiß nicht, dass ich 2.000 Kilometer entfernt unter dem Polarlicht stehe.

Es ist der 24. Dezember, kurz nach 17 Uhr. Heiligabend.

Auf dem Display meines Smartphones sehe ich Fabians Gesicht. Er ruft per Video an. Im Hintergrund sehe ich das dunkle Holz meiner Wohnungstür im Erfurter Andreasviertel. Er sieht gestresst aus. Sein Atem bildet kleine weiße Wolken in der kalten Luft. Er klingelt. Wieder und wieder.

Er wird niemanden finden. Denn die Ruth, die er sucht – die Mutter, die immer wartet, die immer verfügbar ist, die dankbar für jede Krume Aufmerksamkeit ist – wohnt dort nicht mehr.

Ich lasse es klingeln. Nur noch einen Moment. Ich muss erst tief durchatmen, bevor ich ihm zeige, wo ich wirklich bin. Um das zu erklären, muss ich zurückgehen. Genau ein Jahr.

Weihnachten letztes Jahr war der Tag, an dem mein Herz ein kleines bisschen erfror.

Ich hatte mich so darauf gefreut. Seit mein Mann Hannes tot war, füllte die Stille meine Wohnung wie ein zäher Nebel. Weihnachten war mein Leuchtturm. Ich hatte zwei Tage lang in der Küche gestanden. Echte Thüringer Klöße, handgerieben, so wie Fabian sie als Kind liebte. Rotkohl mit Äpfeln und Nelken. Mein Auto roch nach Zimt und Bratensauce, als ich zu Fabians neuem Haus am Stadtrand fuhr.

Ich hatte mich nicht offiziell angekündigt. Ich dachte, Mütter müssten sich nicht ankündigen. Ich dachte, ich wäre der Überraschungsgast, der alle glücklich macht.

Als Fabian die Tür öffnete, sah ich die Irritation in seinen Augen, noch bevor er lächelte. „Mama?“, sagte er. „Was machst du denn hier?“

Hinter ihm hörte ich Lachen. Gläserklirren. Es war warm und hell. Dann kam seine Frau, meine Schwiegertochter. Sie trug ein elegantes Kleid und hielt ein Weinglas. Sie sah mich an, dann auf die Töpfe in meinen Händen, und dann passierte es.

„Oh, Ruth“, sagte sie, und ihre Stimme war nicht böse, nur schrecklich pragmatisch. „Das ist jetzt… ungünstig. Wir haben die Müllers eingeladen. Der Tisch ist komplett voll. Wir haben gar nicht mit dir gerechnet.“

Wir haben gar nicht mit dir gerechnet.

Dieser Satz hing in der Luft. Er war schärfer als die Kälte draußen. Ich sah am Türrahmen vorbei. Der Tisch war perfekt gedeckt. Goldene Servietten. Kerzen. Sechs Stühle. Alle besetzt. Es gab keinen Platz für mich. Nicht am Tisch. Und, so fühlte es sich an, auch nicht in ihrem Leben.

„Ich… ich wollte nur das Essen bringen“, stammelte ich. Ich fühlte mich plötzlich winzig klein. Wie ein Kind, das beim Spielen stört. „Ich wollte nicht bleiben.“

Das war eine Lüge. Ich wollte nichts sehnlicher als bleiben.

„Komm wenigstens kurz rein“, sagte Fabian und rieb sich den Nacken. „Wir können einen Klappstuhl aus dem Keller holen.“

Einen Klappstuhl. Am Katzentisch. Während die „echten“ Gäste auf den Polsterstühlen saßen. „Nein“, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln, das mir fast physisch wehtat. „Ich habe… ich habe selbst noch was vor. Freundinnen warten.“

Ich drückte ihm die Töpfe mit den Klößen in die Hand, drehte mich um und ging. Ich saß den ganzen Abend in meiner dunklen Küche in Erfurt. Ich aß ein Butterbrot. Die Kirchenglocken vom Domplatz läuteten, und ich weinte nicht. Ich war einfach nur leer. Ich schwor mir: Nie wieder. Nie wieder werde ich der ungeladene Gast im Leben meines eigenen Kindes sein.

Monate vergingen. Der Sommer kam und ging. Und dann fand ich beim Aufräumen das alte Fotoalbum von Hannes. Ganz hinten steckte ein vergilbter Prospekt: „Nordkap und Polarlichter – Eine Reise ans Ende der Welt“. Wir hatten immer davon geträumt. „Wenn wir in Rente sind, Ruth“, hatte Hannes immer gesagt. „Dann schauen wir uns an, wie der Himmel tanzt.“

Wir haben es nie getan. Erst war kein Geld da, dann war Fabian klein, dann wurde Hannes krank. Ich starrte auf den Prospekt. Dann sah ich auf mein Sparkonto. Das Geld für das Pflegeheim. Das Geld für „später“. Aber was, wenn „später“ gar nicht mehr kommt? Was, wenn „später“ nur ein weiteres Weihnachten mit einem Butterbrot in der Küche ist?

Ich ging am nächsten Tag ins Reisebüro am Anger. Die junge Frau schaute mich überrascht an, als ich sagte: „Eine Person. Norwegen. Über Weihnachten.“

Und jetzt? Jetzt drücke ich auf den grünen Hörer-Knopf.

„Mama!“, ruft Fabian. Er klingt fast panisch. „Wo bist du? Wir stehen vor deiner Tür! Wir haben… wir haben extra einen Platz gedeckt dieses Jahr. Wir wollten dich abholen!“

Er hält eine Tüte hoch. Ich sehe ein Geschenk darin. Es versetzt mir einen Stich, aber keinen schmerzhaften. Eher einen wehmütigen. Er ist ein guter Junge. Aber er ist erwachsen. Sein Leben ist voll, und das ist okay. Meines darf nicht leer sein, nur weil seins voll ist.

„Hallo, mein Junge“, sage ich. „Warum machst du nicht auf?“, fragt er. „Bist du gestürzt?“

Ich drehe die Kamera. Ich zeige ihm nicht meine geblümte Tapete. Ich zeige ihm den Schnee. Tiefen, unberührten, glitzernden Schnee. Und dann schwenke ich nach oben.

Über mir, am schwarzen Nachthimmel über Tromsø, tanzen grüne und violette Schleier. Sie bewegen sich wie Geister, wie Musik, die man sehen kann. Es ist das Schönste, was ich je gesehen habe.

„Mama?“, seine Stimme wird ganz leise. „Wo… bist du?“

„Ich bin da, wo Papa und ich immer hinwollten, Fabian“, sage ich und spüre, wie die kalte Luft meine Wangen rot färbt. Ich fühle mich nicht wie 72. Ich fühle mich wie 20. „Ich warte nicht mehr auf einen Stuhl, der vielleicht frei wird. Ich habe mir meinen eigenen Platz gesucht.“

Fabian schweigt. Ich sehe, wie seine Frau im Hintergrund näher kommt und auf das Display starrt. Sie sieht die Polarlichter. Ihr Mund steht offen.

„Du bist alleine dort? An Weihnachten?“, fragt Fabian fassungslos.

Ich blicke mich um. Neben mir steht eine Gruppe junger Backpacker aus Spanien und ein älteres Ehepaar aus Japan. Wir haben uns gerade mit Händen und Füßen verständigt und Glühwein geteilt. „Nein“, sage ich sanft. „Ich bin nicht allein. Ich bin bei mir.“

Eine Träne läuft über Fabians Wange. Vielleicht versteht er es jetzt. Vielleicht versteht er, dass Liebe nicht bedeutet, dass man wartet, bis man gebraucht wird.

„Frohe Weihnachten, Fabian“, sage ich. „Grüß mir die Kinder.“

„Frohe Weihnachten, Mama“, flüstert er. „Du siehst… glücklich aus.“

„Das bin ich“, antworte ich.

Ich lege auf. Ich stecke das Handy in meine dicke Daunenjacke. Die Kälte hier oben beißt, aber sie tut nicht weh. Sie weckt auf. Ich atme tief ein. Die Polarlichter tanzen weiter, nur für mich.

Wir verbringen unser halbes Leben damit, unsere Kinder zu lehren, wie man läuft, damit sie irgendwann ohne uns gehen können. Aber wir vergessen oft, uns selbst beizubringen, wie man weitergeht, wenn sie fort sind.

Warte nicht darauf, dass jemand einen Stuhl für dich hinstellt. Die Welt ist riesig. Und der beste Platz an Weihnachten ist nicht der am vollsten Tisch – sondern dort, wo dein Herz endlich wieder ruhig schlagen kann.

Sei dein eigener Gast. Du bist erwartet.

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