Als das Display schwarz wird, bleibt es einen Moment lang still in mir – so still, dass ich fast glaube, ich hätte mir das alles eingebildet.
Dann höre ich wieder Geräusche: Schritte im Schnee, das leise Schnauben von Atem, irgendwo ein gedämpftes Lachen. Tromsø schläft nicht ganz, selbst an Heiligabend.
Ich stehe immer noch da, mitten in dieser Kälte, als hätte mich jemand in die Szene gestellt und vergessen, „Cut“ zu rufen.
Grüne Schleier ziehen über den Himmel, als würden sie sich an etwas erinnern, das nur sie kennen.
„Alles gut?“ fragt eine junge Frau neben mir auf Englisch. Sie hat rote Wangen und eine Mütze, die viel zu dünn für diese Temperaturen aussieht.
Ich nicke, und obwohl ich die Worte nicht geplant habe, sage ich: „Ja. Es ist… nur ein Gespräch gewesen.“
Sie lächelt, als wüsste sie, dass Gespräche manchmal so schwer sind wie Koffer, die man alleine trägt.
Jemand reicht mir wieder den Becher mit dem warmen Getränk. Ich nehme ihn, spüre die Hitze an den Fingern und atme den würzigen Dampf ein.
In meiner Jackentasche vibriert das Handy – eine Nachricht.
Fabian.
Mama, bitte schreib mir kurz. Nur: dass du okay bist. Bitte.
Ich starre auf die Worte.
Früher hätte ich sofort geantwortet. Früher wäre ich dankbar gewesen für „bitte“. Für Aufmerksamkeit. Für irgendein Zeichen, dass ich noch gebraucht werde.
Aber jetzt bin ich hier. Und ich bin nicht auf der Flucht, nur weil mein Herz endlich Luft bekommt.
Ich tippe langsam, als würde ich jeden Buchstaben abwägen.
Ich bin okay. Ich bin warm. Ich bin sicher.
Frohe Weihnachten, mein Junge. Schlaf gut.
Ich drücke auf Senden und stecke das Handy weg, bevor ich doch noch anfange, mich zu erklären.
Man kann nicht alles erklären, ohne dabei wieder klein zu werden.
Der Himmel tanzt weiter, ganz unverschämt.
Und ich merke etwas, das mich überrascht: Ich habe nicht das Gefühl, jemanden zu bestrafen. Ich habe das Gefühl, mich zu retten.
Später, im Hotel, riechen die Flure nach nassen Jacken und nach diesem neutralen Reiniger, der so tut, als würde er Geschichten auslöschen.
Ich ziehe die Stiefel aus und sehe, wie meine Füße leicht zittern – nicht vor Kälte, sondern vor Nachwirkung.
Ich setze mich auf die Bettkante.
Draußen ist die Nacht tief, dunkel, und irgendwo weit entfernt höre ich ein Auto über Schnee rollen.
Auf dem Nachttisch liegt ein kleiner Zettel, den ich am Morgen an der Rezeption bekommen habe: Weckzeit 08:30. Ausflug 10:00.
Nordkap. Das Ende der Welt, wie der Prospekt gesagt hatte.
Ich öffne das Foto auf meinem Handy, das ich vorhin schnell gemacht habe: ein Stück Himmel, grün und violett, unscharf, verwackelt, wie ein Beweis dafür, dass Schönheit nicht stillhält.
Und in meinem Kopf höre ich Hannes’ Stimme, wie damals, wenn er beim Wetterbericht stehen blieb: „Siehst du, Ruth… irgendwann tun wir das.“
Ich streiche mit dem Daumen über den Bildschirm, als könnte ich ihn damit zurückholen.
Dann tue ich etwas, das ich seit seinem Tod nicht mehr getan habe: Ich spreche laut.
„Wir sind da“, sage ich.
Und die Worte fallen nicht ins Leere. Sie fallen auf mich.
Am Morgen ist der Himmel über Tromsø ein blasses Grau, das so wirkt, als hätte jemand die Farben der Nacht wieder eingesammelt.
Ich frühstücke in einem Raum voller fremder Stimmen. Es klirren Teller, jemand lacht, jemand schiebt einen Stuhl zurück.
Ich sitze allein am Tisch und es fühlt sich nicht an wie Einsamkeit.
Es fühlt sich an wie Besitz. Wie: Das hier gehört mir.
Ein älteres Ehepaar am Nachbartisch nickt mir zu.
Ich nicke zurück.
Wir sind alle irgendwoher hier.
Und jeder von uns hat etwas dabei, das schwerer ist als das Gepäck.
Im Bus zum Ausflug sitze ich am Fenster. Die Landschaft wird schnell wilder, weiter, stiller.
Bäume stehen da wie geduldige Zeugen. Schnee liegt in Schichten, als hätte die Welt beschlossen, sich selbst zuzudecken.
Neben mir sitzt ein Mann, vielleicht Mitte fünfzig, mit einer Nase, die schon zu viele Winter erlebt hat.
Er fragt auf Deutsch, mit einem leichten Akzent: „Erstes Mal hier oben?“
„Ja“, antworte ich. „Eigentlich hätte ich…“
Ich halte inne. Das Wort „wir“ liegt mir auf der Zunge wie ein alter Geschmack.
Er schaut mich nicht mitleidig an. Nur ruhig.
„Eigentlich hätte was?“
Ich atme aus. „Eigentlich hätte ich das mit meinem Mann gemacht.“
Er nickt langsam, als würde er das Gewicht verstehen, ohne dass ich es auspacken muss.
„Dann ist er vielleicht trotzdem dabei“, sagt er leise. „Nur anders.“
Ich lache kurz. Nicht fröhlich. Eher… überrascht.
„Sie sind gut in solchen Sätzen.“
„Nein“, sagt er. „Ich bin nur auch schon mal alleine irgendwo gestanden, wo ich nie alleine stehen wollte.“
Das ist alles. Mehr wird nicht gefragt.
Und ich bin dankbar für dieses neue, erwachsene Schweigen, das nicht bohrt, sondern hält.
Am Nordkap bläst der Wind so hart, dass er einem die Gedanken aus dem Kopf ziehen könnte.
Ich stehe da oben, dick eingepackt, und trotzdem habe ich das Gefühl, der Wind findet jede Nahtstelle.
Der Himmel ist tagsüber nur ein fahles Versprechen.
Aber der Blick – diese Kante, dieses Ende, dieses „Hier geht’s nicht weiter“ – macht etwas in mir auf.
Ich denke an Erfurt. An meine Küche. An den Domplatz.
An den Tisch, der voll war. An die goldenen Servietten. An den Klappstuhl.
Und plötzlich sehe ich die Szene anders.
Nicht wie eine Demütigung, die mir passiert ist, sondern wie ein Moment, in dem ich aufgehört habe, mich selbst zu übersehen.
Ich nehme ein Foto. Dann noch eins.
Nicht für Facebook, nicht für irgendwen. Für mich.
Als ich wieder in den Bus steige, spüre ich, wie meine Hände brennen vor Kälte.
Ich reibe sie und denke: Ich bin lebendig. Das ist das Wichtigste.
Am Abend, zurück in Tromsø, ist der Himmel wieder klar.
Die Polarlichter kommen, erst zögerlich, dann mit dieser plötzlichen Selbstverständlichkeit, als hätten sie nur kurz Luft geholt.
Ich gehe nicht zur großen Gruppe. Ich gehe ein Stück abseits.
Ich will sie diesmal nicht teilen müssen, um sie zu genießen.
Und dann vibriert mein Handy wieder.
Eine Nachricht von Fabian – länger dieses Mal.
Mama… ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Ich hab gestern noch lange nachgedacht.
Es tut mir leid. Nicht nur wegen letztem Jahr.
Sondern weil ich dich so oft behandelt habe, als wärst du… selbstverständlich.
Und weil ich erst merke, wie falsch das ist, wenn du weg bist.
Ich lese die Zeilen zweimal.
Die Kälte um mich herum ist dieselbe wie gestern – aber innen ist etwas weicher.
Ich sehe Fabians Gesicht vor mir, wie er gegen meine Tür gehämmert hat.
Ich sehe den leeren Türrahmen. Ich sehe sein Erwachsensein. Seine Überforderung.
Und ich merke: Auch er hat gelernt zu laufen.
Nur hat er dabei vergessen, sich umzudrehen.
Noch eine Nachricht.
Wir haben gestern Abend gegessen, und es war alles… irgendwie falsch ohne dich.
Nicht weil du essen machst.
Sondern weil du da bist.
Ich hab das nie richtig gesehen.
Ich schlucke.
Natürlich war es falsch. Er hat ein Jahr lang geglaubt, ein gedeckter Platz macht etwas wieder gut, das man nicht ausgesprochen hat.
Ich tippe lange nicht.
Ich lasse den Himmel antworten, bevor ich es tue.
Dann schreibe ich:
Danke, dass du mir das sagst.
Ich bin nicht böse, Fabian. Ich bin nur müde vom Warten.
Ich komme nach Hause, wenn ich zurückkomme. Nicht früher, nicht später.
Und wenn wir reden, dann nicht zwischen Tür und Angel.
Ich drücke auf Senden.
Meine Hände zittern, diesmal nicht vor Kälte.
In der Nacht träume ich von meiner Küche.
Aber sie ist nicht dunkel. Sie ist hell, und irgendwo läuft Wasser, und irgendwo summt jemand leise.
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