Heiligabend vor der Tür: 2.000 Kilometer weg, wo mein Herz wieder atmet

Ich wache auf und brauche ein paar Sekunden, um zu verstehen: Ich bin in einem Hotelzimmer. Ich bin in Norwegen. Es ist Weihnachten, und ich bin nicht am Katzentisch.

Ich stehe auf, ziehe den Vorhang zur Seite.

Draußen liegt die Welt ruhig, als hätte sie beschlossen, mir Platz zu machen.

Da ist ein Moment, in dem ich ganz deutlich spüre:

Ich habe mein Leben nicht verlassen. Ich habe es zurückgeholt.

Am zweiten Weihnachtstag gehe ich durch Tromsø, ohne Plan, ohne Eile.

Die Straßen sind stellenweise leer, stellenweise voller Menschen, die auf dem Weg irgendwohin sind.

Ich sehe Schaufenster mit Lichterketten. Ich sehe Kinder mit roten Nasen.

Ich sehe Paare, die sich an den Händen halten, als wäre das eine Art Versprechen.

Und ich denke: Ich will nicht mehr nur die sein, die wartet.

Ich will auch die sein, die geht.

In einem kleinen Laden kaufe ich eine Postkarte. Auf ihr ist der Himmel über Schnee, grün und violett.

Ich setze mich später in die Hotel-Lobby, nehme einen Stift und schreibe an Fabian.

Nicht als Nachricht. Nicht schnell, nicht flüchtig.

Einen Brief.

Fabian,

ich schreibe dir, weil Worte manchmal anders klingen, wenn man sie nicht tippt.

Letztes Weihnachten hat mir wehgetan, ja.

Aber es hat mir vor allem gezeigt, dass ich mich selbst verloren hatte.

Ich war so damit beschäftigt, euch nicht zur Last zu fallen, dass ich vergessen habe, dass ich auch ein Mensch bin.

Nicht nur „Mama“.

Ich halte inne.

Meine Hand zittert kurz.

Dein Vater hat immer gesagt, der Himmel tanzt irgendwann für uns.

Ich wollte nicht, dass dieser Satz stirbt, nur weil er gestorben ist.

Also bin ich gegangen.

Nicht weg von dir. Weg von der Idee, dass mein Platz nur dort ist, wo du ihn mir gibst.

Ich lege den Stift kurz hin und sehe durch die Glasscheibe nach draußen.

Ein Mann zieht einen Schlitten mit einem Kind. Das Kind lacht, und das Lachen klingt wie etwas, das noch lange bleiben wird.

Ich schreibe weiter.

Ich liebe dich. Das hat sich nicht verändert.

Aber Liebe ist kein Wartesaal.

Wenn du mich sehen willst, dann komm zu mir – als Sohn, nicht als jemand, der eine Aufgabe erledigt.

Und ich komme zu dir – als Mutter, aber auch als Ruth.

Ich unterschreibe.

Ruth.

Nicht „Mama“.

Nicht, weil ich es nicht bin. Sondern weil ich mich wieder erinnere, wie ich heiße.

Am Abreisetag, als der Bus zurück zum Flughafen fährt, sehe ich meine Spiegelung im Fenster.

Ich sehe Falten. Ich sehe rote Wangen. Ich sehe Augen, die müde sind, aber nicht mehr leer.

Im Handy ist eine neue Nachricht von Fabian.

Wenn du zurück bist… darf ich dich abholen?

Nicht, weil ich muss.

Sondern weil ich will.

Ich lächle, und diesmal tut es nicht weh.

Ich tippe:

Ja.

Aber wir gehen danach zusammen Kaffee trinken.

Nicht bei dir, nicht bei mir. Neutral.

Und wir reden wirklich.

Drei Punkte erscheinen, dann verschwinden sie, dann erscheinen sie wieder.

Dann kommt nur ein Wort.

Versprochen.

Ich stecke das Handy weg und sehe hinaus auf die Landschaft, die langsam wieder kleiner wird.

Ich denke an den Tisch, der voll war. Und daran, wie wenig das manchmal bedeutet.

Man kann einen Platz decken und trotzdem niemanden sehen.

Und man kann allein im Schnee stehen und endlich gesehen werden – von sich selbst.

Als das Flugzeug abhebt, ist der Himmel über Norwegen grau.

Aber ich weiß, was dahinter liegt.

Und diesmal brauche ich niemanden, der es mir bestätigt.

Scroll to Top