Hier klingt nichts perfekt, aber alles echt: Später Trotz, Musik und Gemeinschaft

Mein Name ist Martina Voss. Ich bin einundsiebzig Jahre alt. Und im vergangenen April habe ich etwas getan, das mein Sohn – ein sehr erfolgreicher Anwalt namens Sebastian – als „den verantwortungslosesten Akt späten Trotzes“ bezeichnete, den er je erlebt hat.

Ich habe ihm gesagt, er solle mir einfach eine Rechnung für seine Meinung schicken.

Dann habe ich zwei Koffer gepackt, das Haus verkauft, in dem ich achtundvierzig Jahre lang gelebt hatte, und das Geld aus der Lebensversicherung meines Mannes benutzt, um vierzig Prozent eines fast bankrotten Radio- und Plattenladens zu kaufen.

Ich bin in die kleine, zugige Wohnung über dem Laden gezogen.

Mein Mann, Heinrich, war ein stiller Mann mit ölverschmierten Händen und einer Sammlung alter Schallplatten. Wenn er am Sonntag Sinatra auflegte, roch das ganze Haus nach Kaffee und Vertrauen. Als er vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt starb, blieb die Musik einfach stehen.

Ich blieb auch stehen.

Mein Alltag wurde beige. Kaffee, Nachrichten, leere Zimmer. Ich lebte, ohne zu klingen.

Sebastian meinte es gut. Er ließ Prospekte auf dem Küchentisch liegen. Seniorenresidenzen mit Namen wie „Haus Sonnengarten“ oder „Parkblick“. Orte mit Vanilleduft und Betreuern, die in dieser überfreundlichen, langsamen Stimme sprechen, die eigentlich für Kleinkinder gedacht ist.

„Mama“, sagte er, „du musst realistisch sein. Du kannst da nicht allein bleiben. Verkauf das Haus, zieh nach München, ich hab dir eine schöne Wohnung rausgesucht. Sicher, modern, ruhig.“

Ich antwortete: „Sebastian, Liebling, ich war zwei Jahre lang ruhig. Das war das Anstrengendste, was ich je getan habe.“

An einem Dienstag bin ich durch die Hauptstraße gefahren. Die meisten Schaufenster waren leer, die Stadt klang nach nichts. Nur vor einem Laden blinkte ein altes Neonschild: „Klang & Platte – Alles muss raus!“

Ich parkte.

Drinnen roch es nach Staub, Vinyl und kaltem Kaffee. Ein junger Mann, vielleicht Ende zwanzig, saß hinter der Theke und starrte auf einen Stapel roter Mahnungen.

„Wir schließen am Monatsende“, sagte er ohne aufzusehen. „Alles halber Preis.“

„Warum?“, fragte ich.

Er sah mich an, müde und ehrlich. „Weil Liebe zur Musik keine Miete zahlt.“

Ich nickte. „Ich war vierzig Jahre Buchhalterin im alten Sägewerk. Ich kenne Zahlen. Und Sie? Sie drehen alles im Kopf, stimmt’s?“

Er lächelte verlegen. „Ich heiße Jan.“

„Ich heiße Martina. Und ich habe gerade beschlossen, Ihre Partnerin zu werden.“

Er lachte, weil er dachte, ich mache Witze. Ich lachte, weil ich wusste, dass ich es ernst meinte.

An diesem Abend rief ich Sebastian an.

„Du hast was getan?! Mama, du kannst doch nicht deine Ersparnisse in einen Plattenladen stecken! Vinyl stirbt aus! Ich könnte dich für geschäftsunfähig erklären lassen!“

„Dann hättest du endlich einen Fall, der wirklich unter die Haut geht“, sagte ich und legte auf.

Die ersten Wochen waren schlimm. Das Dach tropfte, die Heizung spuckte, und ich lernte, was eine Bandscheibe ist. Aber mit jedem sortierten Regal kam Klang zurück. Alte Beatles, Beethoven, BAP. Musik, die nach Leben roch.

Jan stellte die Anlage wieder her. Ich kümmerte mich um die Buchhaltung.

Ich brachte Ordnung in die Zahlen, er brachte Chaos in mein Herz.

Morgens um neun mache ich jetzt Kaffee und öffne die Tür. Die ersten Stammkunden kamen zurück: Herr Reuter, der alte Musiklehrer; Frau Seidel, die mit siebzig wieder tanzt.

Manchmal stehen ein Punk mit bunten Haaren und ein Rentner im Cordanzug nebeneinander, blättern durch dieselbe Kiste. Niemand streitet. Musik ist Frieden.

Sebastian verstand es nicht. „Mama, du arbeitest mehr als ich! Du solltest dich ausruhen!“

„Kind“, sagte ich, „ich ruhe mich seit zwei Jahren aus. Jetzt höre ich endlich wieder zu.“

Letzten Monat haben wir unseren ersten „Stillen Hörabend“ veranstaltet. Wir stellten Tee und Kekse bereit. Dreißig Leute kamen. Keiner redete. Sie saßen einfach da und hörten, wie eine alte Jazzplatte knisterte. Dieses leise Krrr war schöner als jedes Gespräch.

Am nächsten Morgen lag ein Zettel auf dem Tresen. In krakeliger Schrift stand:

„Danke, Frau Voss. Hier klingt nichts perfekt, aber alles echt.“

Ich habe ihn neben der Kasse aufgehängt.

Jan kam später mit einer Idee. „Martina, du erzählst so schön über die Platten. Lass mich das filmen – für Instagram oder TikTok.“

„Jan, ich bin zwei Generationen älter als TikTok.“

„Genau deswegen.“

Er hat mich heimlich gefilmt, wie ich eine alte LP von Udo Jürgens in der Hand halte.

„Wissen Sie“, sagte ich, „dieses Lied hier – Mit 66 Jahren – ist nicht witzig. Es ist wahr. Man fängt wirklich wieder an.“

Am nächsten Tag stand Jan mit leuchtenden Augen in der Tür. „Martina! Das Video hat über 30.000 Aufrufe und es hört nicht auf!“

Jetzt haben wir 30.000 Follower. Sie nennen mich „Die Frau vom Klangladen“. Menschen schicken uns ihre Lieblingsplatten per Post, schreiben Briefe. Manche fahren zwei Stunden, nur um uns zu besuchen.

Unser Laden macht wieder Gewinn. Und manchmal, wenn ich abends die Lichter ausmache, höre ich oben im alten Radio noch ein leises Rauschen, als würde Heinrich zuhören.

Sebastian rief letzte Woche an. Seine Stimme klang anders.

„Mama, ich hab dein Video gesehen. Vielleicht sollte unsere Kanzlei mal was für Kulturförderung tun … vielleicht für … na ja … euer Projekt?“

Ich lächelte. „Ich denke drüber nach. Morgen haben wir den ersten Kurs für Jugendliche: ‚Wie man Musik hört, ohne zu scrollen.‘“

Vermisse ich mein altes Haus? Nein.

Dort war Stille das Ende.

Hier ist sie der Anfang einer Melodie.

Man ist nie zu alt, um wieder laut zu werden.

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