Wenn du wissen willst, was nach dem Satz „Man ist nie zu alt, um wieder laut zu werden“ passierte: Es wurde lauter – und gefährlich leise zugleich.
Am Morgen unseres Jugendkurses – „Wie man Musik hört, ohne zu scrollen“ – lag ein gelber Umschlag im Briefschlitz. Dickes Papier, dünne Höflichkeit. „Begehung der Räumlichkeiten. Elektrik veraltet. Frist zwei Wochen.“ Darunter eine Liste mit Kästchen zum Abhaken und Worten, die nicht klingen, sondern beißen: Brandschutz, Lastträger, Beleuchtung.
Jan blätterte die Seiten durch, als seien es schlechte Songtexte. „Das schaffen wir nie“, murmelte er.
„Wir haben auch den ersten Hörabend geschafft“, sagte ich, „und deinen Kontostand.“ Ich versuchte zu lächeln. Es klang nicht gut.
Um zehn standen die ersten Jugendlichen im Laden. Kapuzen, Kopfhörer um den Hals, Schnürsenkel offen. Ich gab ihnen leere Hefte und Bleistifte. „Heute hören wir“, sagte ich. „Und wir lassen uns Zeit. Das ist ein Luxus, den euch niemand schenkt außer euch selbst.“
Jan legte eine leise Instrumentalplatte auf. Ein Mädchen mit grünem Lidstrich strich über das Cover, als würde es zurückstreicheln. Ein Junge sah auf seine Hände, als hätte er sie gerade erst gefunden.
Nach der Stunde räumte ich die Tassen weg, als die Tür aufging und Sebastian hereinkam. Ohne Ankündigung, ohne Krawatte, nur mit diesem Gesicht, das er hat, wenn er sich nicht sicher ist, ob er umarmen oder verhandeln soll.
„Ich wollte sehen, wie das hier aussieht“, sagte er. „Und… mit dir reden.“
Er hob den gelben Umschlag an. Jan hatte ihn neben die Kasse gelegt wie eine zu schwere Platte.
„Wir reden nach Ladenschluss“, sagte ich. „Wenn die Stille Zeit hat.“
Den restlichen Tag lief es wie immer und doch nicht. Stammkunden kamen, rochen an Covern, erzählten Geschichten, die in Rillen wohnen. Ich kassierte, notierte, nickte. Aber hinter jeder Melodie stand ein Metronom aus Papier: zwei Wochen, zwei Wochen, zwei Wochen.
Gegen Abend wurden die Schatten blau. Jan hängte die „Geschlossen“-Schildchen raus, Sebastian blieb. Er strich mit dem Finger über die Kante des Tresens, als prüfe er die Stabilität.
„Mama“, sagte er schließlich, „die Frist ist kurz, aber nicht unmöglich. Ihr braucht eine neue Hauptsicherung, ein paar Leitungen, wahrscheinlich auch jemanden, der euch das schriftlich absegnet. Und Geld.“
„Wie viel?“
Er nannte eine Summe, die sich anfühlte, als müsste man sie tragen.
Ich atmete ein, langsam, bis in die Rippen. „Dann machen wir es. Wir waren schon schlechter dran.“
Sebastian sah zu Jan hinüber. „Ich habe ein, zwei Kontakte. Keine Versprechen. Aber ich kann telefonieren.“
„Und ich kann eine Sache, die du nicht kannst“, sagte Jan. „Menschen um Hilfe bitten, ohne dass sie das Gefühl haben, sie hätten versagt, wenn sie’s nicht können.“
Noch in derselben Nacht drehte Jan ein kurzes Video. Kein Filter, keine Musik, nur unser Laden im Dämmerlicht. „Klang & Platte braucht eine neue Sicherung“, sagte ich in die Kamera. „Wir haben zwei Wochen Zeit. Wir zahlen, was wir können. Und wenn Sie Zeit haben: Wir brauchen Hände, die wissen, wie Strom klingt, bevor er gefährlich wird.“
Wir stellten das Video online. Dann saßen wir zu dritt auf den Stufen der Hintertür und tranken Tee aus Gläsern, weil die Tassen in der Spülwanne schliefen.
Am nächsten Morgen stand ein Mann vor der Tür, noch bevor ich aufschloss. Graues Haar, ruhige Augen, ein Werkzeugkoffer in der Hand, auf dem „Gerd“ stand. Er nickte, als hätte er unsere Stimmen aus dem Video in den Schrauben gehört. „Ich war vierzig Jahre Elektriker“, sagte er. „Jetzt bin ich in Rente. Ich nehme keinen Lohn. Nur Musik.“
Gerd kroch in Wände, rief gemessene Zahlen, die klangen, als zählten sie Takte. Jan reichte Kabel, ich hielt die Leiter und betete zu allen Schutzheiligen der Sicherungskästen.
Mittags brachte Frau Seidel Schmalzbrote und Thermoskannen. Der Punk mit den bunten Haaren schob die Regale weg, Herr Reuter sortierte die Platten in Kisten, als wären es Schüler vor einer Prüfung.
Gegen drei kam eine Nachricht von einem Chorleiter aus dem Nachbardorf: „Wir singen heute Abend bei Ihnen. Spenden gehen an die Elektrik.“
„Wir haben keine Bühne“, sagte ich ins Telefon.
„Sie haben Rillen“, sagte er. „Das reicht.“
Am späten Nachmittag legte Jan mir ein kleines Päckchen auf den Tresen. „Das kam gerade mit der Post. Kein Absender.“
Ich öffnete es. Darin lag eine Kassette, braun und durchsichtig, auf dem Etikett stand in krakeligen Buchstaben: „Heinrich – Werkstattmix 1984“.
Meine Hände wurden sehr still.
Wir hatten damals ein Kassettenradio in der Küche, das bei jeder Aufnahme ein eigenes Atemgeräusch machte. Heinrich hatte in der Werkstatt oft aufgenommen: kleine Botschaften, Liederfetzen, das Klopfen eines Hammers, das Lachen eines Kollegen. Ich hatte diese Stimmen seit Jahren nicht gehört.
Gerd baute hinterm Tresen provisorisch ein Kassettengerät an unseren Verstärker. Das Band schnurrte an. Zuerst nur Rauschen, dann das helle Klicken, das ich kannte wie meinen Herzschlag.
Und dann Heinrichs Stimme: „Na, Kleine? Wenn du das hörst, hast du wieder zu lange gearbeitet. Pause machen. Kaffee. Und dann: weitermachen.“
Jemand atmete auf. Ich weiß nicht, ob ich es war oder der Laden.
Abends drängten sich Menschen zwischen den Kisten. Jugendliche, Nachbarn, zwei Polizisten in Zivil, die sagten, sie seien privat hier. Der Chor stellte sich zwischen Jazz und Klassik auf. Keine Mikrofone. Keine Show. Nur Stimmen.
Sie sangen leise Stücke, die nicht beeindrucken wollen, sondern bleiben. Die Spendenbox füllte sich mit Münzen, Scheinen, kleinen Zetteln. „Für den Klang.“ „Für Mut.“ „Für Heinrich.“
Sebastian stand seitlich, die Arme verschränkt, und wischte sich zweimal übers Auge, als hätte er Staub gesehen. Nach dem letzten Lied klatschte niemand laut. Man nickte sich zu, als hätte man ein Geheimnis miteinander.
Später, als die Türen geschlossen waren, zählten wir. Es reichte nicht. Es war mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte – und doch nicht genug.
„Wir brauchen noch ein Stück Weg“, sagte ich.
„Dann gehen wir noch ein Stück“, sagte Jan.
Am Morgen des zweiten Tages rollte ein alter Lieferwagen vor. Auf der Plane stand „Verein für Erhalt analoger Kultur“. Drei Menschen stiegen aus, mit Kisten voller Ersatzteile, Klemmen, Kabelschuhe. „Wir haben euer Video gesehen“, sagte die Frau mit dem Zopf. „Wir dokumentieren heute alles, schreiben einen Bericht, und wenn’s gut ist, reichen wir’s weiter. Vielleicht gibt’s eine kleine Förderung. Kein Versprechen. Nur Arbeit.“
Wir arbeiteten. Tage sind kurz, wenn man sie mit Schraubenziehern misst. Jan vergaß zu filmen. Ich vergaß zu essen. Sebastian telefonierte, schrieb Mails, legte Sätze zurecht, die Türen öffnen können, ohne zu treten.
Am Abend brachte der Chorleiter eine Quittung vorbei. „Wir kommen wieder“, sagte er. „Ihr Laden ist ein Ohr für die Stadt.“
Es gab Rückschläge. Eine Leitung hinter dem Lager, die nicht da sein durfte. Eine Steckdose, die so alt war, dass sie mein Geburtsjahr kannte. Und ein Anruf: Der Eigentümer wolle das Haus mittelfristig verkaufen. Neue Pläne, neues Publikum, neue Mieten.
Ich legte den Hörer auf und setzte mich auf die Stufen, auf denen wir Tee getrunken hatten. Ich dachte an das beige Leben, an die Seniorenresidenzen mit Vanilleduft. An die Stille, die früher Ende war.
Gerd setzte sich neben mich. „Manchmal muss man die Musik lauter drehen, bevor man sie retten kann“, sagte er. „Aber nicht, um die Nachbarn zu ärgern. Um den Mut zu hören.“
Am vorletzten Tag der Frist probierten wir die neue Hauptsicherung. Ein kurzes Klicken, dann dieses feine, stabile Summen, das Räume beruhigt. Gerd grinste, als hätte er eine schwierige Passage sauber gespielt.
„Das hält“, sagte er. „Aber ihr braucht etwas, das nicht aus Drähten ist.“
„Was denn?“
„Eine Geschichte, die bleibt, wenn die Kontrolleure längst weg sind.“
Jan hob die Kassette hoch. „Die haben wir.“
Weiter zu 🐾 Teil 3 ⏬⏬






