🐾 Teil 4: Geschichten auf der Straße
Der Frühling kam langsam nach Lüneburg.
Die Tage wurden länger, die Luft roch nach frisch gemähtem Gras, und in den Vorgärten öffneten sich die ersten Tulpen.
Das Hundetaxi rollte nun mehrmals die Woche durch die Straßen, und mit jeder Fahrt sammelten sich Geschichten wie Kieselsteine in einer Tasche.
Manchmal waren es kurze, leise Geschichten.
Ein alter Boxer, dessen Beine schwach geworden waren, aber der Kopf noch immer stolz die Welt musterte.
Eine Mischlingshündin, die vor Jahren aus einem Tierheim geholt worden war und jetzt sanft neben ihrer Besitzerin im Kasten saß, als würde sie wissen, dass jede Fahrt ein Geschenk war.
Es gab Tage, an denen die Geschichten groß und schwer waren.
Wie bei Frau Klinger, die den kleinen Spitz Momo in den Armen hielt, während sie erzählte, dass ihr Mann vor zwei Wochen gestorben sei.
„Er hat Momo immer abends gefüttert“, sagte sie, und ihre Stimme brach an der Erinnerung.
Hilde fuhr langsam, so als könne die sanfte Bewegung den Schmerz glätten.
Am Ende der Fahrt blieb Frau Klinger einen Moment im Kasten sitzen, Momo dicht an sich gedrückt, und atmete tief ein, bevor sie ausstieg.
Andere Geschichten hatten den Glanz von Heldentaten.
Einmal fuhren sie den Retriever Sam zu einem Fototermin für die Lokalzeitung.
Sam hatte vor Jahren das Leben seines Besitzers gerettet, indem er mitten in der Nacht bellte, bis die Nachbarn aufmerksam wurden – gerade rechtzeitig, um den Mann vor einer Rauchvergiftung zu bewahren.
Jonas fotografierte Sam im Hundetaxi, und das Bild hing bald darauf am Schwarzen Brett im Hausflur.
Hilde und die Kinder lernten schnell, dass diese Fahrten mehr waren als Transport.
Es war Zuhören, Geduld und Respekt.
Sie erfuhren, dass ein Hund die Geschichten seines Menschen wie unsichtbare Fäden trägt und dass diese Fäden manchmal reißen, wenn niemand da ist, um sie zu halten.
Mit der Zeit begannen die Leute im Viertel, das Hundetaxi wie etwas Selbstverständliches zu sehen.
Auf dem Weg zur Bäckerei wurde Hilde oft angesprochen: „Könnten Sie nächste Woche…?“
Kinder winkten, wenn sie die grüne Ladefläche sahen.
Manchmal steckten Passanten kleine Tüten mit Hundekeksen in den Kasten, einfach so.
An einem Donnerstagnachmittag kam ein Anruf von Herrn Fenske.
Sein Labrador Otto musste zur Kontrolle in die Tierarztpraxis.
Es war Regen angekündigt, aber Hilde versprach, wie verabredet zu kommen.
Der Himmel zog sich schon am Vormittag zusammen.
Dunkle Wolken hingen schwer über den Dächern, und ein kühler Wind zog durch die Gassen.
Jonas zog die Plane über den Kasten, Anna befestigte sie mit Gummibändern, Max prüfte noch einmal die Bremsen.
„Es wird nass, aber wir fahren“, sagte Hilde, als sie sich den Schal enger band.
Fritz sah ihr von der Wohnungstür aus nach, blieb diesmal zurück – es war nicht seine Fahrt.
Hilde spürte seinen Blick, als sie das Schuppentor hinter sich schloss.
Schon auf halber Strecke begann der Regen.
Er fiel in dichten Schnüren, trommelte auf das Blechdach der Bushaltestellen und mischte sich mit dem Rattern der Räder auf dem Pflaster.
Wasser sammelte sich in Rinnen, spritzte an die Seiten.
Otto wartete schon unter dem Vordach seines Hauses.
Herr Fenske hatte ihm eine blaue Decke übergeworfen, doch der Labrador schien den Regen nicht zu fürchten.
Er sprang ohne Zögern in den Kasten, schüttelte sich einmal und machte es sich auf der Plane bequem.
Die Fahrt zur Praxis war anstrengend.
Der Regen nahm die Sicht, die Luft roch nach nasser Erde, und der Wind drückte gegen das Vorderrad.
Doch Hilde trat gleichmäßig in die Pedale, Jonas lief dicht daneben, und Anna hielt Ottos Leine sicher im Kasten.
Als sie ankamen, waren alle durchnässt, aber Otto war trocken geblieben.
Herr Fenske lachte, als er den Hund abholte.
„Sie sind verrückt, bei so einem Wetter zu fahren. Aber es ist ein gutes Verrückt.“
Auf dem Rückweg ließ der Regen nach.
Die Straßen glänzten, und in den Pfützen spiegelten sich gelbe Straßenlaternen, obwohl es erst früher Abend war.
Das Hundetaxi rollte gleichmäßig, als wüsste es, dass es seinen Platz im Viertel gefunden hatte.
Zu Hause stellte Hilde das Rad in den Schuppen.
Sie schüttelte das Wasser von der Plane, hängte die nasse Decke zum Trocknen auf.
In der Küche roch es nach Tee, den sie am Morgen aufgebrüht hatte.
Fritz lag nicht wie üblich auf seinem Platz.
Er stand am Fenster, als hätte er auf sie gewartet, und als sie hereinkam, hustete er kurz, tief und rau.
Hilde blieb stehen, sah zu ihm hinüber.
„Alles gut, Bursche?“ fragte sie leise.
Fritz wedelte schwach mit dem Schwanz, legte sich wieder hin.
Der Husten verklang, doch in Hildes Bauch blieb ein kleiner, fester Knoten.
Sie setzte sich neben ihn, strich ihm über den Rücken und hörte seinem Atem zu.
Draußen tropfte noch Regen vom Dach, und der Abend senkte sich langsam über die Stadt.
Hilde spürte, dass die Geschichten des Hundetaxis bald um eine neue, sehr persönliche ergänzt werden würden.
Und tief in ihr ahnte sie, dass diese Geschichte schwieriger werden würde als alle bisherigen Fahrten.