Hinter dem Zaun | Er sprach nie ein Wort bis ein alter Hund durch den Zaun schlüpfte

🐾 Teil 5: Wenn Erinnerungen wachsen wie Bäume

Der August brachte eine trockene Hitze, wie man sie in Bad Bentheim nicht oft kennt.
Die Gärten wurden blasser, der Rasen knirschte unter den Füßen.
Doch unter dem Apfelbaum war es kühl.
Der Schatten wuchs und mit ihm wuchs etwas in Linus, das keiner benennen konnte.

Er war stiller geworden, aber nicht verschlossen.
Seine Stille war voller Beobachtung, voller Denken.
Er hörte zu.
Nicht nur Worten, sondern dem, was dazwischen lag.


Eines Nachmittags stand er lange am Zaun.
Nicht an der Stelle, wo Basti immer durchgekommen war.
Sondern etwas weiter links, dort, wo das Holz neu war, glatt und ohne Ritzen.

Milo saß neben ihm.
Seine Ohren zuckten, als würde er etwas hören, das nur Linus verstand.

„Ich will den Zaun nicht mehr“, sagte Linus.

Jana, die auf der Terrasse saß, blickte auf.
„Warum nicht?“

„Er hält Dinge draußen, die rein wollen.“

Sie schwieg.
Denn was hätte sie sagen sollen?


Noch am selben Abend ging sie zu Herrn Wenzel.
Er saß wie immer auf seiner Bank, den Blick in den Abend gerichtet.

„Linus möchte, dass der Zaun wegkommt“, sagte sie.

Wenzel drehte langsam den Kopf.
„Der ganze?“

„Nein. Nur ein Stück. Dort, wo… na ja… Sie wissen schon.“

Er nickte.
„Ich bring morgen die Säge.“


Sie schnitten eine Lücke.
Nicht groß, aber sichtbar.
Ein Durchgang, ohne Tür, ohne Riegel.
Ein Zeichen.

Linus stand dabei.
Nicht als Zuschauer.
Er hielt selbst ein Brett, reichte Schrauben, wischte mit einem Tuch über die Schnittkante.

Als es fertig war, ging er hindurch.
Einmal hin.
Einmal zurück.

Dann sagte er:

„Jetzt kann Basti auch durch, wenn er will.“


In der Schule war Einschulung.
Die Flure voll mit neuen Stimmen, bunten Tüten, aufgeregtem Papierknistern.
Linus mochte den Lärm nicht.
Aber er stellte sich in die Ecke der Aula und beobachtete.

Milo war dabei, mit Sondergenehmigung.
Er trug ein Halstuch mit dem Aufdruck: „Ich bin Begleiter.“

Ein kleiner Junge weinte.
Seine Mutter versuchte, ihn zu beruhigen, vergeblich.

Linus ging langsam hin.
Er streichelte Milo, sagte:
„Du kannst ihn kurz ausleihen.“

Der Junge schaute auf.
Dann legte er die Hand auf Milos Rücken.
Und hörte auf zu weinen.

Die Mutter flüsterte:
„Wie heißt dein Hund?“

„Er ist Milo. Aber er hört auch auf Freund.“


Die Schulleiterin bat Jana später zum Gespräch.
„Wir überlegen, Linus zum Projektpaten zu machen. Für Kinder, die schwer ankommen.“

Jana war überrascht.
„Aber er spricht doch kaum mit anderen.“

„Gerade deshalb. Er zwingt niemanden. Und die Kinder spüren das.“

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Nur, dass ihr Herz klopfte, wie früher, als Linus zum ersten Mal „weich“ gesagt hatte.


Zu Hause fand sie ihn im Garten.
Er baute kleine Figuren aus Holz.
Ein Hund, ein Junge, ein Apfelbaum.

„Was machst du da?“, fragte sie.

„Ein Spiel. Für die, die noch nicht sprechen.“

Sie kniete sich zu ihm.
„Und wie funktioniert es?“

„Man stellt die Figuren so hin, wie man sich fühlt.“

Er zeigte es ihr.

Der Hund stand nah beim Jungen.
Der Baum war ein Stück entfernt, aber sichtbar.
Die Sonne aus Papier lag dazwischen.

„Und das heißt?“, fragte sie.

„Dass man nicht allein ist. Auch wenn keiner redet.“


Am Wochenende luden sie Frau Schlüter ein.
Linus wollte ihr Milo zeigen, und den Zaun, und das Spiel.
Sie kam mit einer kleinen Schachtel.

„Für dich“, sagte sie zu Linus.
„Du musst nichts sagen. Aber vielleicht willst du ja etwas bauen.“

Drin war Knetmasse, bunt, weich, formbar.
Linus sah lange hinein.
Dann nahm er ein Stück Blau und ein Stück Grau.
Er knetete langsam.
Schweigend.

Nach zwanzig Minuten legte er ein kleines Tier auf den Tisch.
Ein Hund.
Mit großen Ohren.

Frau Schlüter lächelte.
„Ist das Milo?“

Linus schüttelte den Kopf.

„Nein. Das ist Basti, wie er jetzt ist.“


Am Abend, als der Himmel lila wurde, ging Linus allein hinaus.
Er nahm die Knetfigur, setzte sich unter den Apfelbaum und stellte sie auf einen Stein.

Milo folgte ihm.
Legte sich zu seinen Füßen.

Linus sagte:
„Das ist dein Bruder. Jetzt passt du auf.“

Er blickte nach oben.
„Und du kannst uns hören. Stimmt’s?“

Die Äste rauschten.
Ein Apfel fiel.
Ganz leise.
Fast genau neben den Stein.

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