Hinter dem Zaun | Er sprach nie ein Wort bis ein alter Hund durch den Zaun schlüpfte

🐾 Teil 7: Wenn ein Zaun fällt

Der Oktober brachte neue Farben.
Rotgoldene Bäume, dampfende Wiesen, das erste Feuer im Ofen.
Aber im Garten der Brockmanns geschah etwas Ungewöhnliches:
Der Zaun wurde abgebaut.

Nicht ganz.
Nur ein Stück.
Ein ganzes Element zwischen zwei Pfosten.
Es war der Teil, an dem Basti damals durchgeschlüpft war.
Der, an dem Linus später die Socke hindurchgeschoben hatte.
Jetzt war er offen.
Eine Lücke, ein Übergang.

Herr Wenzel war wieder dabei.
Er war stiller geworden.
Aber er kam.

Linus hielt beim Abschrauben die Latten fest.
Und als der Zaun endlich durchbrochen war, sagte er:

„Jetzt können Gedanken durchgehen.“

Jana fragte leise:
„Was für Gedanken?“

„Die, die nicht mehr wehtun, wenn sie rüberlaufen.“


Seit dem Herbstfest war Linus mutiger geworden.
Er ließ Max öfter ins Haus.
Sie spielten mit den Holzfiguren, bauten neue.
Einmal schnitzten sie sogar eine kleine Hütte aus Zweigen und Stoffresten.

„Für alle, die traurig sind“, erklärte Linus.
„Da kann man drin warten, bis es besser wird.“

Max hatte zuerst nicht verstanden.
Aber später holte er seine kleine Schwester.
Sie setzte sich in die Hütte, hielt einen Teddybären im Arm und sagte nach langer Zeit zum ersten Mal wieder „Danke“.

Jana beobachtete es vom Küchenfenster aus.
Sie griff nach einer Serviette, obwohl sie nichts gegessen hatte.
Nur um etwas festzuhalten.


Die Schule wurde auf Linus aufmerksam.
Nicht wegen Leistungen.
Wegen Wirkung.

Ein neuer Schüler, Jonas, hatte große Schwierigkeiten mit der Eingewöhnung.
Er schrie, rannte weg, versteckte sich in Ecken.
Bis Milo eines Morgens zu ihm ging, sich vor ihn setzte und einfach da blieb.

Jonas schob ihn erst weg.
Dann zog er ihn an den Ohren.
Doch Milo blieb.

Später kam Linus dazu.
Er setzte sich daneben.
Saglos.
Stumm.

Nach zehn Minuten sagte Jonas:
„Ich mag euch nicht. Aber ich will bei euch sitzen.“

Und Linus antwortete:
„Ist okay. Sitzen reicht.“


Am Nachmittag erzählte Jana Herrn Wenzel davon.
Sie saßen unter dem Baum, der mittlerweile fast alle Blätter verloren hatte.
Die Knetfigur von Basti stand noch immer auf dem Stein.

„Ihr Junge ist anders geworden“, sagte Wenzel.

„Ja“, sagte Jana.
„Aber nicht plötzlich. Er ist gewachsen. Wie dieser Baum.“

Der alte Mann nickte.
Dann sah er sie an, lange.
„Wenn ich mal nicht mehr komme… sagen Sie ihm, dass ich den Zaun gern offen gesehen hab.“

Jana schluckte.
„Sie können es ihm auch selbst sagen.“

Er lächelte.
„Vielleicht. Aber nur, wenn ich’s rechtzeitig schaffe.“


An einem Sonntagmorgen, als der Wind besonders scharf durch die Bäume fuhr, kam ein Brief.
Kein offizieller.
Ein handgeschriebener Umschlag, abgegeben ohne Absender.

Drinnen ein Foto:
Linus mit Milo, aufgenommen beim Herbstfest.
Daneben ein kurzer Text:

„Manche reden mit Worten. Andere mit Taten. Ihr Sohn tut beides, auf seine Weise.“

Jana zeigte es ihm nicht sofort.
Sie wusste, dass manches wirken musste wie ein warmer Tee
nicht zu heiß, nicht zu schnell.

Später legte sie es in seine Spielkiste, zwischen die Figuren.
Einige Tage später fand sie es auf seinem Schreibtisch, sorgfältig mit einem Magneten befestigt.


Milo bekam im November eine kleine Verletzung an der Pfote.
Nichts Schlimmes, nur ein Splitter.
Aber Linus war erschüttert.

„Ich hab nicht aufgepasst“, sagte er.

„Das passiert“, tröstete Jana.
„Sogar, wenn man aufpasst.“

Er kümmerte sich rührend um Milo.
Reinigte die Wunde mit einem Tuch, den der Tierarzt mitgegeben hatte.
Wickelte einen kleinen Verband darum.
Darauf malte er ein Herz.

„Damit er weiß, dass ich da bin“, erklärte er.


In der Schule durfte Linus nun wöchentlich den Morgenkreis mitgestalten.
Er brachte Bilder mit, zeigte kleine Figuren, erzählte Geschichten.
Nicht laut.
Aber alle hörten zu.

Einmal fragte ihn ein Kind:
„Warum sprichst du manchmal so leise?“

Linus antwortete:
„Weil mein Kopf laut genug ist.“

Die Lehrerin notierte es sich.
Nicht als Dokumentation.
Als Erinnerung.


Max wurde zu einem echten Freund.
Nicht über Nacht.
Aber langsam.
Er kannte die Regeln.
Er wusste, wann Linus Raum brauchte.
Und wann nicht.

Eines Tages brachte er einen alten Fußball mit.
„Magst du spielen?“

Linus schüttelte den Kopf.
Dann sagte er:
„Aber du kannst spielen. Und ich passe auf.“

Sie gingen raus.
Milo rannte dem Ball hinterher.
Linus saß am Rand, klopfte mit den Fingern auf den Rasen.
Ein Muster.
Immer gleich.

Max fragte:
„Was heißt das?“

„Das ist der Takt, wenn ich mich freue.“


Am Abend erzählte Linus Jana vom Spiel.
„Ich hab nicht mitgemacht. Aber ich war dabei.“

Sie legte den Arm um ihn.
„Dabei sein reicht manchmal.“

„Ja“, sagte er.
„Weil der Zaun weg ist.“

Sie sah ihn an.
„Meinst du den draußen?“

Er lächelte.
„Und den hier drin.“

Er tippte sich an die Brust.
Einmal.
Ganz leicht.

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