🐾 Teil 8: Wenn Herzen sich öffnen
Die Tage wurden kürzer, das Licht wanderte schneller über die Wände.
Der Winter stand noch nicht vor der Tür, aber seine Stimme war schon zu hören.
Im Rascheln der Blätter, im Knacken der Äste, im Schweigen der Vögel.
Linus saß öfter am Fenster.
Nicht, weil er in sich zurückfiel, sondern weil er wartete.
Auf etwas, das niemand benennen konnte.
Vielleicht eine Erinnerung.
Vielleicht ein Besuch.
Herr Wenzel war nun viele Tage nicht mehr erschienen.
Die Bank unter dem Apfelbaum blieb leer.
Der Tee blieb ungetrunken.
Jana rief schließlich bei ihm an.
Niemand nahm ab.
Auch am nächsten Tag nicht.
Sie fragte vorsichtig bei der Nachbarin nach.
Die zuckte nur mit den Schultern.
„Ich hab ihn ewig nicht mehr gesehen.“
Am Abend saßen Jana und Linus gemeinsam auf der Couch.
Sie erzählte ihm von Wenzels Abwesenheit.
Er sagte nichts.
Dann stand er auf, ging zu seiner Holzfigurensammlung und suchte einen alten, grauen Hund heraus.
Er stellte ihn neben einen neuen: Milo.
„Damit er nicht allein ist, wenn er geht.“
Jana fragte leise:
„Glaubst du, dass er geht?“
„Vielleicht ist er schon weg. Aber nicht vergessen.“
Zwei Tage später klingelte es an der Tür.
Ein junger Mann stand dort.
Hellbrauner Mantel, schlichte Mütze, unsicherer Blick.
„Entschuldigen Sie… ich bin Paul Wenzel. Mein Vater… also, er…“
Er zögerte.
Dann reichte er ihr einen kleinen Briefumschlag.
„Er hat mir gesagt, ich soll ihn bringen. Wenn’s soweit ist.“
Jana spürte sofort, was der Junge nicht sagen wollte.
Sie nahm den Umschlag, dankte, und schloss leise die Tür.
Linus war im Garten.
Er stapelte kleine Steine aufeinander, ganz ruhig.
Milo lag neben ihm, die Augen halb geschlossen.
Jana trat langsam zu ihm.
„Herr Wenzel ist gestorben.“
Er ließ den Stein sinken.
Dann sagte er:
„Er ist jetzt bei Basti.“
Sie kniete sich zu ihm, öffnete den Umschlag.
Darin ein handgeschriebener Zettel, krakelig, mit zitternder Schrift:
„Lieber Linus,
wenn du das liest, bin ich nicht mehr da.
Aber ich wollte, dass du weißt:
Dein Zaun hat auch meinen geöffnet.
Danke.
– Wenzel“
Am nächsten Morgen stellte Linus zwei Teebecher unter den Apfelbaum.
Er goss warmes Wasser hinein, obwohl niemand trank.
Dann setzte er sich dazu, schweigend.
Als Jana ihn holen wollte, hob er nur die Hand.
„Ich bin nicht allein. Ich höre sie.“
Sie ließ ihn.
Und sie wusste:
Das war kein Rückzug.
Das war Verbindung.
Einige Tage später besuchte sie mit Linus das Pflegeheim, in dem Wenzel seine letzten Wochen verbracht hatte.
Der junge Paul hatte ihnen die Adresse gegeben.
Sie trugen ein Bild mit sich.
Linus hatte es gemalt:
Ein alter Mann, ein Junge, ein Hund, und ein Zaun, der offen stand.
Die Pflegerin nahm das Bild mit zitternden Fingern entgegen.
„Er hat viel von Ihnen erzählt. Besonders von dem Tag, an dem er mit dem Hund im Garten saß.“
Linus sagte leise:
„Das war sein Lieblingsort.“
Sie nickte.
„Er war ruhig, wenn er davon sprach.“
Wieder zu Hause begann Linus, einen kleinen Gartenabschnitt zu gestalten.
Er nannte ihn „Das Wenzel-Stück“.
Ein kleiner Kiesweg, eine Holzbank, daneben ein Schild aus bemaltem Ton:
„Hier dürfen Gedanken rasten.“
Max half beim Graben.
Er sagte nichts, als Linus das Schild aufstellte.
Aber am nächsten Tag brachte er einen kleinen Blumentopf mit Stiefmütterchen.
„Damit’s nicht so leer aussieht“, meinte er.
Jana beobachtete all das mit einem Staunen, das sie selbst nicht ganz greifen konnte.
Ihr Sohn, einst wortlos, unsichtbar für viele, wurde zu einem Brückenbauer.
Nicht mit großen Gesten.
Sondern mit kleinen, echten Bewegungen.
Sie saß abends auf der Terrasse, den Blick auf das offene Stück Zaun gerichtet.
Der Wind spielte in den Zweigen.
Und für einen Moment glaubte sie, Schritte zu hören.
Alte, langsame Schritte.
Im November kamen die ersten Nachtfröste.
Linus baute Milo eine kleine Hütte aus Holz und Decken.
„Nur falls er draußen schlafen will.“
Er sprach nun öfter von Träumen.
Von solchen, in denen Basti zurückkam.
Aber nicht als Hund.
Sondern als Schatten.
Als Lichtreflex auf dem Zaun.
Als Geräusch in der Nacht.
„Er sagt nichts“, erzählte er.
„Aber ich spüre, dass er mich sieht.“
Jana fragte einmal:
„Fehlt er dir?“
Linus dachte lange nach.
Dann sagte er:
„Nein. Weil ich ihn jeden Tag spüre.“
Eines Morgens, als der Nebel besonders dicht war, stand Linus am Fenster und sagte:
„Ich möchte, dass andere Kinder auch so einen Freund haben.“
Jana war verwirrt.
„Was meinst du?“
„So einen wie Milo. Oder Basti. Oder Herrn Wenzel.“
Sie nickte langsam.
„Das wäre schön. Aber nicht jeder hat so viel Glück.“
Linus blickte sie an.
Sein Gesicht war ruhig.
„Vielleicht kann ich ein bisschen davon abgeben.“
Am selben Tag schrieb er zum ersten Mal einen Brief.
Ganz allein.
An eine Tiertherapiestelle, die sie im Sommer besucht hatten.
Darin stand:
„Ich bin Linus. Ich war bei euch.
Wenn ihr einen Hund habt, der jemanden sucht, sagt Bescheid.
Ich kann helfen, ihn zu verstehen.
Ich bin gut im Zuhören.“
Jana legte den Brief später mit zitternden Händen in einen Umschlag.
„Du bist etwas ganz Besonderes, Linus“, flüsterte sie.
Er zuckte mit den Schultern.
„Ich bin einfach jemand mit offenem Zaun.“