🐾 Teil 9: Der letzte Gang zur Bank
Es war ein grauer Tag. Nicht kalt, nicht stürmisch, aber voller schwerer Luft. So ein Tag, an dem selbst die Uhren langsamer ticken und jedes Geräusch dumpf klingt, wie durch Watte.
Helga war zu Hause geblieben. Zum ersten Mal seit Wochen.
Die Tasse Tee stand unangerührt auf dem Tisch. Die Decke war bis unter das Kinn gezogen, aber nicht der Kälte wegen. Sie war einfach müde.
Nicht traurig, nicht krank nur müde bis in die Knochen.
Milo lag zu ihren Füßen. Bewegte sich kaum. Wenn sie sich regte, hob er den Kopf. Wenn sie still blieb, schloss er die Augen wieder. Er war da. Einfach da.
Nadine kam am Vormittag vorbei, brachte frisches Brot und leise Worte. Sie blieb nicht lange. Helga war dankbar dafür. Manche Besuche sind kostbar, wenn sie kurz sind.
„Wenn du etwas brauchst, ruf mich“, sagte Nadine.
„Ich brauche nur ihn“, antwortete Helga und sah auf Milo hinab.
Am Nachmittag schien plötzlich die Sonne. Nicht stark. Nur ein paar Strahlen, die sich durch das Wolkenband drückten und golden auf die Fensterbank fielen.
Helga öffnete die Augen. Lächelte. Und setzte sich auf.
Langsam, aber mit einem Ziel.
Sie zog sich an. Schicht für Schicht, als würde sie sich für etwas Besonderes vorbereiten.
Milo beobachtete sie. Als sie sich bückte, um ihre Schuhe zu schnüren, stand er auf. Streckte sich. Und wartete an der Tür.
Die Straße war still. Die Bäume kahl, die Dächer leicht mit Raureif überzogen. Kein Vogelgesang, nur das leise Knacken des Frosts unter den Sohlen.
Helga ging langsam. Jeder Schritt bewusst, fest, zäh.
Milo lief dicht an ihrer Seite.
Die Leute, die sie sahen, grüßten leise. Manche blieben stehen, andere gingen einfach weiter – aber alle warfen einen Blick. Jenen Blick, der nichts fragt, aber viel sagt.
Als sie den Miloplatz erreichte, stand die Sonne tief. Der Pavillon war leer, aber jemand hatte eine Kerze angezündet. Sie flackerte im Wind, als würde sie atmen.
Helga setzte sich.
Sie schwieg lange. Schaute auf die Tafel. Heute stand dort nur ein Satz:
„Die, die still gehen, hinterlassen oft das lauteste Echo.“
Sie las ihn mehrmals.
Dann beugte sie sich nach vorn, strich Milo über das Fell.
„Ich war nie gut im Abschiednehmen.“
Milo drückte seinen Kopf gegen ihre Knie.
Lukas kam später. Hatte zufällig aus dem Fenster gesehen, dass sie dort saß.
Er brachte keinen Tee, keine Worte nur seine Anwesenheit.
Er setzte sich einfach neben sie. Gemeinsam schauten sie in den leeren Platz.
Nach einer Weile sagte Helga:
„Weißt du, ich dachte früher oft, ich bin zu leise für diese Welt. Zu still. Zu unscheinbar.“
Lukas schwieg.
„Aber vielleicht ist genau das mein Platz gewesen.“
Er sah sie an. Sie war blass, aber ruhig. Klar.
„Du hast uns gezeigt, was es heißt, da zu sein. Einfach da.“
Die Sonne sank langsam hinter das Dach des Supermarkts. Die Schatten wurden lang. Helga legte ihre Hand auf die Bank.
„Ich möchte morgen nicht mehr herkommen“, sagte sie leise.
Lukas nickte. „Ich weiß.“
„Er wird trotzdem gehen.“
Milo hob kurz den Kopf.
„Und das ist gut so“, flüsterte sie.
Nadine kam, als es dunkel wurde. Helga stand noch immer, die Hände in den Taschen, den Blick auf das Licht der Kerze gerichtet.
„Wir bringen dich heim“, sagte Nadine sanft.
Helga nickte. Kein Widerstand mehr.
Sie ging zwischen den beiden, langsam, fast schwerelos. Milo lief hinter ihr, als würde er sie beschützen.
In der Nacht schlief Helga tief. Keine Hustenanfälle, kein Wälzen, kein Seufzen. Ihr Atem war ruhig. Milo lag dicht an ihrem Bett, den Kopf auf der Decke, wachsam, aber friedlich.
Gegen vier Uhr morgens hob er den Kopf.
Etwas hatte sich verändert.
Er stand auf. Tapste zur Tür. Schaute noch einmal zurück.
Dann ging er.
Am Morgen fand Nadine die Wohnung still. Zu still.
Helga lag da, als hätte sie noch geträumt. Die Hände gefaltet. Der Atem längst verklungen.
Ein Zettel lag auf dem Tisch.
„Danke, dass ich gehört wurde.“
Ilmenau war an diesem Tag stiller als sonst. Selbst die Vögel schienen zu wissen, dass jemand gegangen war, den man nicht vergessen durfte.
Der Miloplatz füllte sich im Laufe des Tages. Kerzen wurden aufgestellt. Briefe abgelegt. Eine Frau brachte einen Schal. Ein Kind ein Kissen.
Aber niemand sah Milo.
Er war irgendwo draußen. Auf dem Weg zu jemandem, der ihn gerade jetzt brauchte.