Es ist 9:15 Uhr. Normalerweise stünde ich jetzt im Nieselregen vor der Turnhalle, weil Lukas seine Sporttasche vergessen hat und ich sie ihm in der großen Pause durch den Zaun reiche, damit er keinen Ärger vom Lehrer bekommt.
Normalerweise hätte ich jetzt schon den Geschirrspüler bei meiner Tochter ausgeräumt, die Betten gemacht und wäre auf dem Weg zum Supermarkt, um frisches Gemüse für das Mittagessen zu kaufen, über das sich später alle beschweren würden.
Stattdessen sitze ich in meiner Küche. In meinem Pyjama. Vor mir steht eine Tasse Kaffee, der noch heiß ist. Neben mir liegt ein angebissenes Stück Marmorkuchen – der Rest von gestern, der eigentlich für die Geburtstagsfeier gedacht war. Er schmeckt herrlich. Er schmeckt nach Freiheit. Und ein bisschen nach Trotz.
Mein Handy liegt auf dem Tisch, das Display nach unten. Es vibriert. Ununterbrochen. Seit ich gestern Abend die Tür hinter mir zugezogen habe, herrscht auf der anderen Seite der Stadt Panik. Ich weiß das, ohne abzuheben. Ich kenne den Rhythmus meiner Familie.
Das erste Vibrieren um 6:45 Uhr war Panik („Wo sind die Pausenbrote?“). Das Dauerklingeln um 7:15 Uhr war Wut („Mama, geh ran, wir kommen zu spät!“). Die Nachrichten gegen 8:30 Uhr waren wahrscheinlich pure Verzweiflung („Sie haben Lukas’ Hausaufgabenheft nicht unterschrieben!“).
Ich nehme einen weiteren Schluck Kaffee und schlage die Zeitung auf. Das Horoskop für Schützen sagt: „Heute ist ein guter Tag, um alte Lasten abzuwerfen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.“ Ich muss fast lachen. Wenn das Universum Humor hat, dann einen sehr trockenen.
Um 10 Uhr hört das Vibrieren auf. Ruhe. Eine beunruhigende, dröhnende Stille. Mein Herz zieht sich kurz zusammen. Ich bin Mutter und Großmutter. Der Instinkt, zu helfen, sitzt tief in meinen Knochen, wie Rheuma bei schlechtem Wetter.
Habe ich überreagiert?, fragt eine leise Stimme in meinem Kopf. Sind es nicht doch nur Kinder? War Sandra nicht einfach nur gestresst?
Dann fällt mein Blick auf meine Hände. Auf den Daumen, der immer noch schmerzt, weil ich gestern drei Stunden lang Karotten und Kartoffeln für den Salat geschält habe, den niemand gegessen hat, weil Beate Pizza bestellt hatte. Ich erinnere mich an Mias Worte: „Du bist immer nur müde, Oma.“ Nein. Ich gehe nicht zurück. Nicht heute.
Gegen Mittag klingelt es an meiner Tür. Nicht das Telefon. Die Haustür. Ich straffe meine Schultern. Ich erwarte Sandra, aufgelöst, vielleicht mit Blumen oder zumindest einer Entschuldigung, die nicht wie ein Vorwurf klingt.
Aber als ich öffne, steht da niemand aus meiner Familie. Es ist der Postbote mit einem Paket für den Nachbarn. Ich nehme es an, enttäuscht und erleichtert zugleich. Als ich die Tür wieder schließen will, sehe ich das Auto meiner Tochter in die Einfahrt biegen. Sie fährt zu schnell, bremst abrupt.
Sandra steigt aus. Sie sieht nicht aus wie die erfolgreiche Marketing-Managerin, die sie ist. Ihre Bluse ist halb aus dem Hosenbund gerutscht, ihre Haare sind zerzaust, und sie trägt Turnschuhe zum Hosenanzug. Sie stürmt auf die Haustür zu. Ich bleibe im Rahmen stehen. Ich mache keinen Platz.
„Mama!“, keucht sie. „Warum gehst du nicht an dein verdammtes Telefon?“
„Ich habe gefrühstückt“, sage ich ruhig. „Und Zeitung gelesen.“
Sandra starrt mich an, als hätte ich gerade behauptet, ich würde jetzt professionell Fallschirmspringen. „Gefrühstückt? Weißt du, was bei uns los ist? Es ist die Hölle! Lukas hat seinen Turnbeutel nicht gefunden und hat geschrien, bis er rot anlief. Mia wollte sich nicht kämmen lassen und hat mir ins Bein gebissen. Mark musste ein Meeting absagen, weil ich die Kinder nicht allein zur Schule bringen konnte!“
„Das klingt stressig“, sage ich. Keine Ironie. Nur Feststellung.
„Stressig? Es ist eine Katastrophe! Und wo warst du? Wir haben uns auf dich verlassen!“
„Ich habe gestern gekündigt, Sandra. Hast du mir nicht zugehört?“
„Ich dachte, du machst Witze! Oder hast deine Tage, oder was weiß ich! Man kündigt doch nicht als Oma!“
Sie fuchtelt wild mit den Händen. „Und was sollte das Gerede von der ‚Spaß-Oma‘? Beate ist heute Morgen um 8 Uhr abgereist. Sie meinte, die Stimmung sei ihr zu ‚toxisch‘ und sie müsse dringend zu einem Termin in Kampen.“
Ich kann mir ein bitteres Lächeln nicht verkneifen. Natürlich. Beate ist wie ein Schmetterling – schön anzusehen, aber beim ersten Anzeichen von Regen ist sie weg.
„Sieh an“, sage ich. „Die Sekt-Oma mag also keinen Alltagsstress.“
„Hör auf damit!“, faucht Sandra.
Ihr Gesicht rötet sich. „Mama, bitte. Hör auf mit diesem Spielchen. Die Kinder fragen nach dir.“
„Ach wirklich? Fragen sie nach mir? Oder fragen sie, wer ihnen den Kakao macht und die Schuhe bindet?“
Sandra schweigt. Sie sieht erschöpft aus, und für einen Moment sehe ich wieder das kleine Mädchen in ihr, das sich das Knie aufgeschlagen hat. Mein Impuls ist es, sie in den Arm zu nehmen, ihr zu sagen, dass ich komme, dass ich alles richte.
Aber dann sehe ich Lukas vor mir, wie er auf das iPad starrt und mich ignoriert. Ich höre Sandra lachen, während ich gedemütigt werde.
„Ich komme nicht zurück, Sandra.“
„Aber… wie sollen wir das machen? Die Hortplätze… du weißt doch…“
„Ihr verdient genug Geld. Engagiert jemanden. Eine Haushaltshilfe. Ein Au-pair. Jemanden, der bezahlt wird, um sich beschimpfen zu lassen.“
„Niemand macht das so gut wie du!“, ruft sie verzweifelt.
Es soll ein Kompliment sein, aber es klingt wie eine Falle. „Genau das ist das Problem“, antworte ich leise. „Ich habe es zu gut gemacht. Ich habe es euch zu einfach gemacht, mich zu vergessen.“
Ich trete einen Schritt zurück in den Flur. „Ich muss jetzt los. Ich habe mich für einen Töpferkurs in der Volkshochschule angemeldet. Er fängt um 14 Uhr an.“ Sandra steht mit offenem Mund da.
„Du hasst Basteln.“
„Ich hasse es, Legosteine aufzuheben. Ich weiß noch gar nicht, ob ich Töpfern hasse. Ich hatte ja nie Zeit, es herauszufinden.“
Ich schließe die Tür. Sanft, aber bestimmt. Ich höre sie noch eine Weile draußen stehen, dann startet der Motor und sie fährt davon.
Die Woche vergeht schleppend. Ich töpfere tatsächlich. Mein erstes Werk sieht aus wie ein Aschenbecher, der einen Unfall hatte, aber ich bin stolz darauf. Ich gehe spazieren.
Ich treffe mich mit einer alten Freundin, Renate, die ich seit drei Jahren vernachlässigt habe, weil immer irgendein Kind krank war oder abgeholt werden musste. Renate hört mir zu, nickt und bestellt uns noch einen Eierlikör. „Es war Zeit, Uschi“, sagt sie. „Wir sind Rentnerinnen, keine Leibeigenen.“
Aber die Stille in meiner Wohnung ist manchmal laut. Ich vermisse den Geruch von Lukas’ Haaren, wenn er verschwitzt vom Fußball kommt. Ich vermisse Mias klebrige Händchen, wenn sie sich beim Vorlesen an mich kuschelt.
Ich bin nicht aus Stein. Ich bin immer noch ihre Oma. Aber ich weiß: Wenn ich jetzt nachgebe, ändert sich nichts. Wenn ich jetzt zurückgehe, bin ich für immer die „Alltags-Oma“, die man wie ein Möbelstück benutzt.
Am Freitagabend klingelt das Telefon erneut. Es ist Lukas. Ich zögere. Dann gehe ich ran. „Hallo, mein Spatz.“
Stille am anderen Ende. Dann ein leises Schniefen. „Oma?“, fragt er.
Seine Stimme zittert. „Ich bin da, Lukas.“
„Mama hat Reis gekocht. Er ist angebrannt. Und Papa schreit die ganze Zeit am Telefon.“ Er weint jetzt richtig. „Und mein iPad ist leer und niemand weiß, wo das Ladekabel ist.“
„Das klingt nicht schön“, sage ich sanft. „Wann kommst du wieder?“, schluchzt er. „Oma Beate hat mir zwar das iPad geschenkt, aber sie hat mir nicht gezeigt, wie man das schwierige Level bei Mario schafft. Du guckst wenigstens immer zu, auch wenn du es nicht verstehst.“
Mir kommen die Tränen. Es ist ein kleiner, winziger Sieg, aber er fühlt sich an wie ein Erdbeben. „Lukas, hör mir gut zu. Gibst du mir bitte Mama?“
Es rumpelt, dann höre ich Sandras atemlose Stimme. „Mama?“ Sie klingt nicht mehr wütend. Sie klingt besiegt.
„Sandra“, sage ich. „Wir müssen reden. Aber nicht heute. Und nicht am Telefon. Kommt morgen Vormittag vorbei. Alle.“
„Zum Helfen?“, fragt sie hoffnungsvoll.
„Nein. Zum Reden.“
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