Ich bezahlte die Rechnung. Bar. Ich ließ dem Kellner ein großzügiges Trinkgeld da, nicht weil der Service außergewöhnlich war, sondern weil er mir etwas unbezahlbares geschenkt hatte: Zeit und Ruhe.
Als ich aus dem Gasthof trat, blendete mich die Vormittagssonne. Normalerweise würde ich jetzt im Supermarkt stehen, Sonderangebote für Hackfleisch vergleichen und überlegen, was ich koche, damit alle zufrieden sind – etwas ohne Laktose für Mareike, ohne Pilze für die Kinder und deftig für meinen Schwiegersohn Thomas.
Heute nicht.
Ich stieg in meinen kleinen Wagen und tat etwas, das ich seit Jahren nicht mehr getan hatte: Ich fuhr nach Hause. Zu mir. Nicht zu ihnen.
Mein eigenes Haus wirkte fast fremd. Der Briefkasten quoll über, weil ich die letzten drei Tage quasi bei Mareike gewohnt hatte, um den Geburtstag vorzubereiten.
Im Flur war es still. Keine herumfliegenden Schulranzen, keine schmutzigen Socken auf der Treppe. Nur der leichte Geruch von abgestandener Luft und Lavendel. Ich öffnete alle Fenster. Ich kochte mir einen Tee – diesmal einen teuren Darjeeling, den ich mir zu Weihnachten geschenkt hatte und der bisher ungeöffnet im Schrank stand.
Mein Handy hatte aufgehört zu vibrieren. Wahrscheinlich hatten sie jetzt die Phase der Panik hinter sich und waren in die Phase der Wut übergegangen.
Gegen 11:30 Uhr klingelte es an der Haustür. Nicht das höfliche Klingeln eines Besuchers, sondern das aggressive Dauerklingeln von jemandem, der Rechte einfordert.
Es war Mareike.
Sie sah schrecklich aus. Ihre Bluse war falsch zugeknöpft, ihre Haare saßen nicht, und sie hatte diesen gehetzten Ausdruck, den ich aus dem Spiegel nur allzu gut kannte.
„Mama!“ Sie stürmte an mir vorbei in den Flur, ohne die Schuhe auszuziehen. „Bist du verrückt geworden? Wir haben uns Sorgen gemacht! Ich dachte, du hättest einen Unfall! Warum gehst du nicht ans Telefon?“
Ich schloss die Tür ruhig hinter ihr. Ich ging in die Küche und setzte mich an meinen kleinen Holztisch. „Möchtest du einen Tee?“, fragte ich.
Mareike starrte mich an, als hätte ich gerade Kisuaheli gesprochen. „Tee? Mama, das Haus brennt! Jannik hat seinen Turnbeutel vergessen, Thomas musste früher von der Arbeit weg, um ihn zur Schule zu bringen, und ich… ich habe mein Meeting verpasst! Es ist das totale Chaos!“
Ich nahm einen Schluck aus meiner Tasse. „Das klingt anstrengend“, sagte ich sachlich.
„Anstrengend? Es ist eine Katastrophe! Babette ist heute Morgen abgereist, sie wollte nicht im Weg stehen, wenn so viel Trubel ist, und du warst einfach weg!“
Natürlich. Babette, die Spaß-Oma. Sobald der Spaß vorbei ist und der Alltag beginnt, ist sie weg. Wie ein Zugvogel, der beim ersten Frost in den Süden zieht.
„Setz dich, Mareike“, sagte ich. Meine Stimme war leise, aber sie hatte eine Festigkeit, die meine Tochter innehalten ließ.
Sie ließ sich auf den Stuhl gegenüber fallen. „Was ist los mit dir? Ist es wegen gestern? Weil wir Babette so gefeiert haben?“
„Nein“, sagte ich. „Es ist nicht wegen Babette. Es ist wegen mir. Und es ist wegen dir.“
Ich sah ihr direkt in die Augen. „Ich habe gehört, was ihr gestern gesagt habt. In der Küche.“
Mareike lief rot an. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder. „Das… das war doch nicht so gemeint. Du weißt doch, wie Kinder sind. Und ich… ich wollte nur nett zu Babette sein.“
„Du hast gesagt, ich sei die Langweilige. Dass ich nerve.“
„Mama, du bist halt… du bist halt immer da. Du bist strenger. Das ist doch normal.“
„Genau“, nickte ich. „Ich bin immer da. Ich bin so selbstverständlich wie fließendes Wasser und Strom. Man merkt erst, dass es fehlt, wenn man den Hahn aufdreht und nichts kommt.“
Ich stand auf und ging zum Fenster, blickte in meinen verwilderten Garten.
„Ich bin 64, Mareike. Ich habe dich großgezogen. Ich habe gearbeitet. Ich habe meinen Mann gepflegt, bis er starb. Und die letzten sieben Jahre habe ich deine Kinder miterzogen. Ich habe es gerne getan. Aber irgendwo auf dem Weg bin ich von der Großmutter zum Dienstleister geworden.“
Ich drehte mich zu ihr um. „Ein Dienstleister, der nicht bezahlt wird. Und schlimmer noch: Ein Dienstleister, der nicht respektiert wird. Wenn die Putzfrau krank ist, wünscht man ihr gute Besserung. Wenn Oma Gudrun nicht funktioniert, ist man wütend, weil das Meeting platzt.“
Mareike begann zu weinen. Es war kein wütendes Weinen mehr, sondern ein erschöpftes. „Aber wir brauchen dich, Mama. Wir schaffen das nicht ohne dich. Wir arbeiten beide vollzeit. Das Haus, die Kredite… wir haben unser Leben darauf aufgebaut, dass du hilfst.“
„Das ist das Problem“, sagte ich sanft. „Ihr habt euer Leben auf meiner Aufopferung gebaut. Aber mein Fundament bröckelt.“
Ich holte ein Taschentuch und legte es vor sie hin.
„Ich werde nicht mehr das Inventar sein, Mareike. Ich werde nicht mehr das Elterntaxi spielen, nur weil der Bus ‚unbequem‘ ist. Ich werde nicht mehr die Wäsche von vier Leuten waschen, die gesunde Arme und Beine haben. Und ich werde ganz sicher nicht mehr die sein, über die man hinter vorgehaltener Hand lacht, weil sie Kartoffelsalat statt Tablets mitbringt.“
„Was heißt das?“ Mareike sah mich panisch an. „Willst du uns nie wieder sehen?“
„Nein. Ich bin immer noch eure Mutter und Großmutter. Aber ab jetzt gelten meine Regeln.“
Ich atmete tief durch. Das war der Moment.
„Ich komme sonntags zum Mittagessen – als Gast. Ich nehme die Kinder gerne einen Nachmittag in der Woche, um etwas Schönes zu unternehmen – in den Zoo, in den Wald, zum Malen. Aber ich bin keine Notfall-Hotline mehr. Wenn ihr Betreuung braucht, müsst ihr einen Hortplatz suchen oder einen Babysitter bezahlen. Wenn ihr den Haushalt nicht schafft, müsst ihr eure Ansprüche runterschrauben oder eine Hilfe einstellen.“
„Aber das können wir uns nicht leisten!“, protestierte Mareike.
„Dann müsst ihr vielleicht das große Haus überdenken. Oder den zweiten Wagen. Oder den Urlaub.“ Ich blieb hart. „Es ist nicht meine Aufgabe, euren Lebensstandard durch meine unbezahlte Arbeit zu subventionieren.“
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