Ich habe meine Familie geghostet, um endlich wieder gesehen zu werden

Mareike ging an diesem Tag wütend. Sie knallte die Tür zu.

Die nächsten drei Tage herrschte Funkstille. Ich wusste, dass es in ihrem Haus drunter und drüber ging. Ich wusste, dass Jannik wahrscheinlich zu spät zum Training kam und sie Pizza bestellen mussten. Es juckte mich in den Fingern, hinzufahren. Mein ganzer Körper war auf „Helfen“ programmiert. Es tat körperlich weh, nicht gebraucht zu werden – oder besser gesagt: dem Bedürfnis nicht nachzugeben.

Stattdessen buchte ich den Wanderurlaub in Südtirol. Zwei Wochen, allein, im nächsten Monat. Ich kaufte mir neue Wanderschuhe. Ich fing an, meinen Garten auf Vordermann zu bringen. Ich pflanzte Rosen, die Pflege brauchten. Meine Pflege.

Am vierten Tag, einem Samstag, klingelte es wieder.

Diesmal stand Amelie vor der Tür. Thomas, mein Schwiegersohn, wartete im Auto, den Motor ließ er laufen, als traute er sich nicht rein.

Amelie hatte ihren Rucksack auf. Sie sah ein bisschen zerzaust aus.

„Hallo Oma“, sagte sie leise.

„Hallo Mäuschen“, sagte ich und hielt die Tür auf.

Sie kam herein und sah sich um, als wäre sie noch nie hier gewesen. Vielleicht war sie das auch nicht wirklich – zumindest nicht mit Aufmerksamkeit.

„Mama hat gesagt, du hast Urlaub“, sagte Amelie.

„So ähnlich“, lächelte ich.

„Es ist blöd zu Hause“, platzte es aus ihr heraus. „Papa hat versucht zu kochen, und es hat angebrannt. Mama schreit dauernd, weil wir unsere Schuhe nicht wegräumen. Und niemand hat mir bei dem Referat über Eichhörnchen geholfen.“

Sie setzte ihren Rucksack ab.

„Und Babette?“, fragte ich vorsichtig.

„Die ist weg. Sie hat mir eine Karte aus Ibiza geschickt“, sagte Amelie achselzuckend. Dann griff sie in ihren Rucksack.

Sie zog nicht das Tablet heraus. Sie zog die Jeanstasche heraus, die ich ihr genäht hatte. Darin war der Skizzenblock.

„Das Tablet ist leer“, sagte sie. „Und Mama hat das Ladekabel nicht gefunden. Und außerdem…“ Sie stockte. „Außerdem weiß ich nicht, wie man Schatten malt.“

Ich spürte einen Kloß im Hals. Ich kniete mich vor sie hin, mein künstliches Knie knackte protestierend, aber das war mir egal.

„Schatten sind wichtig“, sagte ich. „Ohne Schatten sieht man das Licht nicht.“

„Zeigst du es mir?“, fragte sie. „Bitte, Oma Gudrun. Du kannst das doch.“

Wir saßen zwei Stunden lang am Küchentisch. Wir malten Eichhörnchen. Ich zeigte ihr, wie man mit der Kohle wischt, um Tiefe zu erzeugen. Wir aßen Kekse – gekaufte, keine selbstgebackenen, weil ich keine Zeit hatte zu backen. Es war Amelie egal.

Wir lachten. Nicht über laute Witze oder Pool-Fotos. Wir lachten, weil ich mir Kohlestaub auf die Nase geschmiert hatte.

Als Thomas klingelte, um sie abzuholen, kam er diesmal zur Tür. Er sah müde aus, hatte Augenringe.

„Gudrun“, sagte er und reichte mir die Hand. „Danke, dass du sie genommen hast.“

Er zögerte kurz. „Wir… wir rotieren ziemlich. Wir haben jetzt einen Putzplan gemacht. Die Kinder müssen mithelfen. Mareike und ich wechseln uns mit dem Fahren ab.“

„Das klingt vernünftig“, sagte ich.

„Es ist hart“, gab er zu. „Wir wussten gar nicht, wie viel du eigentlich gemacht hast. Es tut uns leid.“

Es war keine große Entschuldigung mit Blumenstrauß. Es war eine ehrliche, erschöpfte Feststellung eines Mannes, der gerade lernte, wie viel Arbeit ein Familienleben wirklich bedeutet. Das war mir mehr wert als jeder Blumenstrauß.

Zwei Monate später.

Ich saß in meinem Garten. Die Rosen blühten. Ich war braungebrannt – nicht von Mallorca, sondern von der Bergluft in Südtirol.

Mein Handy vibrierte. Eine Nachricht von Mareike.

Kein „Wo bist du?“. Kein „Hilfe!“.

Es war ein Foto. Es zeigte Amelie, die stolz eine Eins unter ihrem Eichhörnchen-Referat in die Kamera hielt. Darunter stand: „Sie wollte, dass du es als Erste siehst. Hast du Sonntag Zeit für Kaffee? Ich backe (Versuch Nr. 3, hoffentlich essbar!).“

Ich lächelte und tippte: „Ich komme gerne. Aber nur, wenn ich das Rezept nicht retten muss.“

Mareike antwortete mit einem lachenden Smiley.

Ich bin immer noch Oma Gudrun. Ich bin immer noch die Infrastruktur – aber ich bin nicht mehr der Asphalt, auf dem sie herumtrampeln. Ich bin eher wie das Fundament eines Hauses: Tragend, wichtig, aber mit einer klaren Grenze, wo das Haus endet und der Garten beginnt.

Amelie liebt ihr Tablet immer noch. Das ist okay. Es ist eine andere Welt. Aber neulich, als ich dort war, lag das Tablet auf dem Sofa. Amelie saß am Tisch und benutzte die Jeanstasche.

„Oma“, rief sie, als ich reinkam. „Guck mal! Ich habe dich gemalt.“

Ich sah auf das Blatt. Es war eine krakelige Zeichnung einer Frau mit grauen Haaren, die in einem Garten steht. Sie trug Wanderschuhe und hielt einen Pinsel in der Hand. Die Sonne schien. Und die Frau auf dem Bild lächelte.

Unter dem Bild stand in krummen Buchstaben: „Oma Gudrun. Die Starke.“

Nicht die Langweilige. Nicht die Spaßige. Die Starke.

Ich nahm das Bild und drückte es an meine Brust.

Die routinierte Liebe war gesehen worden. Und in diesem Moment wusste ich, dass mein Streik das Wichtigste war, was ich je für meine Familie – und für mich selbst – getan hatte.

Manchmal muss man verschwinden, um wirklich gesehen zu werden. Und manchmal muss man aufhören zu dienen, damit man anfangen kann, wirklich zu lieben.

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