„Stolzer als meine Geburt?“
„Anders stolz“, antwortete er. „Geboren zu werden ist Zufall. Deinen Weg zu gehen, ist eine Entscheidung. Du hast entschieden, außergewöhnlich zu sein.“
Ich fing an zu weinen. „Es tut mir leid. Für alles.“
„Du musst dich nicht entschuldigen“, sagte er. „Du hast versucht, dein Herz zu schützen. Vor der Scham, vor der Trauer. Das verstehe ich.“
„Vor was genau?“
Er sah mich zum ersten Mal direkt an, ohne wegzuschauen.
„Vor der Liebe zu einem Mann, von dem dir alle sagten, dass er nicht gut genug ist“, sagte er ruhig. „Zu einem, der nach Diesel riecht, statt nach teurem Parfüm.“
Das brach etwas in mir, das ich jahrelang sorgfältig zusammengehalten hatte.
„Erzähl mir von Mama“, bat ich. „Aber diesmal die ganze Wahrheit.“
Also tat er es.
Er erzählte von der Diagnose, von den Gesprächen mit Ärzten, von Formularen, die keiner versteht. Von der zweiten Hypothek auf die Wohnung. Davon, wie er jeden Auftrag angenommen hatte, den sonst keiner wollte. Wie meine Mutter darauf bestanden hatte, dass er den Laster behält. „Sonst fällst du ganz“, hatte sie gesagt. „Und dann fällt auch Jana.“
Er erzählte von ihren letzten Worten.
„Sie hat gesagt: ‘Sorg dafür, dass Jana fliegt.’ Nicht läuft. Nicht kriecht. Fliegt“, sagte er und blickte auf seine ölverschmierten Hände. „Alles, was ich getan habe, war der Versuch, dir Flügel zu kaufen.“
„Ich bin vor dir weggeflogen“, murmelte ich.
„Manchmal sieht Fliegen so aus“, sagte er. „Manchmal muss man weit genug weg, um zu verstehen, woher man kommt.“
Wir schwiegen eine Weile. Draußen hörte ich Motorengeräusche. Viele.
„Sonntagskonvoi“, erklärte Papa. „Die Kollegen vom Verein. Wir fahren jede Woche.“
Sechs, sieben, zehn Laster bogen auf den Hof. Alle mit demselben kleinen Aufnäher an der Tür: ein stilisierter Bär auf einem Lenkrad.
Sie stiegen aus. Ältere Männer, Frauen, manche mit Bierbauch, manche mit Zopf, alle in Arbeitskleidung. Sie sahen mich an und hielten inne.
„Das gibt’s doch nicht“, sagte einer. „Ist das Jana?“
„Hallo, Stefan“, sagte ich leise. Ich kannte ihn von früher, aus der Zeit, als sie mir noch abwechselnd Geburtstagstorten brachten.
„Unsere Unimaus ist wieder da!“, rief eine Frau lachend.
Sie wussten es alle. Alle kannten die Uni. Die Noten. Das Jobangebot.
„Dein Vater erzählt uns alles“, erklärte Murat. „Jede Prüfung. Jeden Artikel. Du bist hier sowas wie ein Star.“
„Ihr habt alle mitgezahlt“, sagte ich. „In dieses Konto.“
Sie warfen Papa Blicke zu.
„Sie hat’s rausgefunden“, murmelte er.
Stefan lachte. „Wurde auch Zeit. Dein Vater rackert sich seit Jahren ab. Schläft im Laster, isst Dosenfutter, damit du in der Mensa was Vernünftiges bekommst.“
„Warum?“, fragte ich. „Warum helft ihr mir, wenn ich euch jahrelang ignoriert habe?“
Lotte trat einen Schritt vor. „Weil man Familie nicht nur dann ist, wenn alles glänzt“, sagte sie. „Sondern gerade dann, wenn einer wegschaut.“
Sie luden mich ein, beim Sonntagskonvoi mitzufahren. Mein erster Impuls war, abzulehnen. Alte Reflexe. Aber Papa hielt mir etwas hin.
„Der Helm deiner Mutter“, sagte er. „Ich habe ihn für dich aufgehoben.“
Wir fuhren los. Ich auf dem Beifahrersitz bei Papa, angeschnallt, die Hände im Schoß. Er fuhr mit einer Vorsicht, die ich noch nie bei ihm gesehen hatte. Jeder Kreisverkehr langsam, jede Kurve vorsichtig. Als hätte er etwas Zerbrechliches geladen.
Der Konvoi hielt auf dem kleinen Friedhof am Ortsrand. Alle parkten ihre Laster in einer Reihe. Papas Grabstelle war ordentlich, die Schrift gut lesbar, frische Blumen in der Vase.
„Geliebte Ehefrau und Mutter“, stand da. Darunter: „Sie wollte, dass du fliegst.“
„Ich hab sie mitgebracht“, sagte Papa leise vor dem Grab. „Unsere Jana. Abgeschlossen. So, wie du es dir gewünscht hast.“
Ich kniete mich neben ihn. „Es tut mir leid, Mama“, flüsterte ich. „Dass ich Papa verurteilt habe. Dass ich so getan habe, als wäre ich besser. Dass ich vergessen habe, woher ich komme.“
Ein Windstoß ließ die Bäume rauschen. Irgendwo klingelte eine kleine Glocke, die jemand an einem Ast befestigt hatte.
Papa lächelte in den grauen Himmel. „Sie hat dich schon längst verziehen“, sagte er.
Wir fuhren noch stundenlang. Später kehrten wir alle in eine kleine Raststätte ein. Der Wirt kannte sie beim Namen. Papa bestellte für mich, ohne zu fragen.
„Pfannkuchen mit Apfelmus für die Dame“, sagte er. „Und Kaffee. Sie trinkt inzwischen Kaffee, kein Kakao mehr.“
Er hatte recht. Es waren meine Lieblingspfannkuchen. Immer noch.
„Erzähl uns von deinem Studium“, bat Murat.
Also tat ich es. Ich erzählte von den Vorlesungen, die mich faszinierten. Vom Druck, immer die Beste sein zu müssen. Von dem Gefühl, dass alle anderen meilenweit voraus waren. Wie ich manchmal dachte, man könne den Plattenbau auch nach Jahren noch an mir riechen.
„Du hast da hingehört“, sagte Papa leise. „Von Anfang an.“
„Ich gehöre auch hierher“, antwortete ich. Und meinte es zum ersten Mal.
Zum ersten Mal schaute er weg, damit ich seine Tränen nicht zu deutlich sah.
„Ich muss dir noch etwas sagen“, begann ich nach einer Weile. „Über Leon.“
„Dein Verlobter?“, fragte Papa vorsichtig.
„Mein Ex-Verlobter“, sagte ich. „Ich habe heute Morgen mit ihm Schluss gemacht.“
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