Ich ließ meinen einfachen Fernfahrer-Vater von meiner Elite-Uni verweisen – erst sein letztes Geschenk zerstörte alles

Er stand da in seiner speckigen, nach Diesel riechenden Arbeitsjacke, mitten zwischen Anzügen und Kostümen, mit einem Geschenk in der Hand – von einem Mann, den ich für alle anderen seit zehn Jahren für tot erklärt hatte.

Meine Kommilitoninnen starrten. Die Professoren flüsterten. Die Eltern meines Verlobten verzogen das Gesicht. Das hier sollte mein perfekter Tag sein. Mein sauberer Neuanfang. Mein endgültiger Ausstieg aus der Welt, für die er stand.

„Bitte, Jana. Fünf Minuten“, bat er, als der Sicherheitsdienst schon auf ihn zuging.

„Ich bin dreihundert Kilometer gefahren. Ich wollte dich nur abschließen sehen.“

Aber ich drehte mich um und ging.

So wie ich mich schon seit meinem vierzehnten Lebensjahr von ihm abwandte – in dem Jahr, in dem ich beschloss, dass ich besser war als er.


Ich erzählte an der Universität allen, mein Vater sei tot.

Es war einfacher, als zu erklären, dass er noch lebt und als Fernfahrer unterwegs ist, irgendwo zwischen Ruhrgebiet und polnischer Grenze. Einfacher, als zuzugeben, dass ich aus einem Plattenbau am Rand einer Kleinstadt in Sachsen stamme.

„Was hat dein Vater gemacht?“, fragte mich meine Zimmernachbarin im ersten Semester, als sie die leere Stelle an meiner Wand sah – dort, wo bei den anderen Familienfotos hingen.

„Er war niemand Besonderes“, sagte ich. „Er ist gestorben, als ich noch klein war.“

In Wahrheit hieß er Karl Krüger. Für alle anderen war ich Jana Meier. Den Namen meiner Mutter hatte ich im Studium offiziell angenommen. Meier klang nach Mittelschicht, nach Reihenhaus und Musikschule. Krüger klang nach Spätschicht und Baustelle. Nach jemandem, der Öl an den Fingern hatte und im Radio Schlager hörte.

Heute hatte er eine Grenze überschritten, indem er zu meiner Abschlussfeier kam. Er hatte den Tag zerstört, von dem ich immer gesagt hatte, er wäre der beste meines Lebens.

Drei Stunden nach der Zeremonie fand ich das Geschenk, das er zurückgelassen hatte, vor meiner Wohnungstür.

Innen lag etwas, das alles zerstörte, was ich über ihn zu wissen glaubte.

Etwas, das bewies, dass er in den Jahren, in denen ich ihn hasste, jeden Tag für mich gestorben war.


Mein Name ist Jana Meier-Krüger. Jana für die meisten. Für ihn war ich immer „Mäuschen“. Als wäre ich fünf und nicht zweiundzwanzig, mit einem Abschluss an einer der besten Wirtschaftsuniversitäten des Landes und einem sicheren Jobangebot bei einer großen Bank in Frankfurt.

Die letzte richtige Unterhaltung mit ihm hatte ich vier Jahre zuvor geführt. An dem Tag, an dem ich in den Zug Richtung Süden stieg.

„Ich kann dich fahren“, hatte er angeboten. „Den Laster hab ich extra von innen sauber gemacht.“

„Ich fahr mit Anna und ihren Eltern“, sagte ich. „Die nehmen mich mit.“

Annas Eltern waren Ärzte. Sie hatten ein helles, leises Auto und ein Haus mit bodentiefen Fenstern. Sie machten keine Flecken am Tisch. Sie blamierten ihre Tochter nicht schon durch ihre bloße Existenz.

„Mäuschen, ich weiß, du bist sauer…“

„Ich bin nicht sauer, Papa. Ich bin fertig. Fertig damit, das Mädchen zu sein, dessen Vater lieber auf der Autobahn schläft als zu Hause. Fertig damit, dich zu verteidigen. Fertig damit, so zu tun, als wäre es egal, dass du deine Kollegen und deinen Laster über uns gestellt hast.“

„Ich habe nie…“

„Mama ist allein gestorben. Du warst mit deinem Konvoi im Norden unterwegs. Mit deinen ‘Jungs’. Erzähl mir nichts von Prioritäten.“

Das brachte ihn zum Schweigen. Die Wahrheit tat das meistens.

Mama hatte drei Jahre lang Krebs. Die meiste Zeit war er da. Aber am Ende? In den letzten Stunden? Da war er mit seinem Laster unterwegs, bei einem Winterkonvoi, der für ihn nur wie ein weiterer Auftrag aussah. Er kam drei Stunden zu spät ins Krankenhaus.

Ich war vierzehn. Alt genug, um ihre Hand allein zu halten. Alt genug, ihn dafür zu hassen.

Also, als ich ihn jetzt, Jahre später, am Eingang der Aula sah – in seiner ausgebeulten Arbeitsjacke, die Hände schwielig, das Gesicht vom Wind gezeichnet – fühlte ich mich wieder wie vierzehn. Klein. Wütend. Verlassen.

„Sicherheit“, sagte ich zum Ordner. „Dieser Mann gehört nicht hierher.“

Sie führten ihn ruhig hinaus. Professionell. Er wehrte sich nicht. Er sah mich nur mit diesen grauen Augen an, die ich von ihm geerbt hatte, und nickte. Als würde er verstehen. Als hätte er es erwartet.


Mein Verlobter, Leon, fand mich nach der Veranstaltung.

„Wer war dieser Mann? Der mit der Warnweste und den Arbeitsschuhen?“

„Niemand. Jemand, der sich eingeschlichen hat.“

Leons Familie hatte das, was man „altes Geld“ nennt. Ein Haus am Starnberger See. Urlaube auf Inseln, von denen ich früher nicht einmal wusste, wie man sie schreibt. Seine Mutter hatte mich schon dreimal nach meinem „familiären Hintergrund“ gefragt. Ich hatte meine Geschichte sorgfältig zurechtgelegt: Eltern früh gestorben. Aufgewachsen bei einer Tante. Tragisch, aber vorzeigbar.

Das Paket lag vor meiner Wohnungstür, als ich zurückkam. Einfaches Packpapier. Kein Absender. Aber ich erkannte die Schrift.

„Für mein Mäuschen. In Liebe, Papa.“

Ich war kurz davor, es ungeöffnet in die Tonne zu werfen. Vielleicht hätte ich es tun sollen. Aber etwas in mir zwang mich, die Schnur zu lösen.

Innen lag eine Holzschatulle. Von Hand gearbeitet. Wunderschön. So eine Art Kunsthandwerk, wie er sie früher gemacht hatte, bevor Mama krank wurde. Bevor die Rechnungen kamen. Bevor er alles verkaufte – außer seinem Laster.

In der Schatulle lagen drei Dinge, die alles veränderten.


Erstens: Ein Kontoauszug. Konto eröffnet vor achtzehn Jahren. Auf meinen Namen. Guthaben: 112.000 Euro.

Zweitens: Ein dicker Stapel Papiere. Tankquittungen. Frachtpapiere. Abrechnungen von Nacht- und Gefahrgutfahrten. Prämien von Winterkonvois, bei denen andere Fahrer abwinkten. Alle eingezahlt auf dieses Konto. Alle datiert auf die Jahre nach Mamas Tod.

Drittens: Ein Brief. Handschriftlich. Datiert auf den Tag vor meiner Abschlussfeier.

„Mein Mäuschen,

morgen machst du deinen Abschluss. Ich weiß das, weil ich seit Jahren alles verfolge, was du tust. Jedes Zeugnis. Jede Auszeichnung. Die Liste mit den besten Absolventinnen. Das Jobangebot von dieser großen Bank, von dem deine Freundin kürzlich im Café erzählt hat. (Ja, ich war dort. Am Nachbartisch. Du hast mich nicht gesehen. Ich habe gelernt, unsichtbar zu sein.)

Du glaubst, ich hätte den Laster, die Kollegen, die Straße über dich und deine Mutter gestellt. Ich möchte dir erzählen, was damals wirklich passiert ist.

Deine Mutter bekam die Diagnose an einem Dienstag. Der Arzt sagte: vielleicht drei Jahre, mit Glück fünf. Die Therapie sollte ungefähr 200.000 Euro kosten. Die Kasse übernahm vielleicht ein Viertel. Ich habe alles verkauft. Das Auto. Die Werkzeuge meines Vaters. Die Hälfte der Wohnungseinrichtung. Alles, außer dem Laster.

Du hast mich gefragt, warum ich den Laster nicht auch verkaufe. Weil dieser Laster unser Einkommen war. Sonderfahrten, gefährliche Strecken, Nachtzuschläge. Der Laster brachte im Jahr mehr Geld ein als jeder andere Job, den ich mit meinem Abschluss bekommen hätte. Dieses Geld ging direkt in die Behandlung deiner Mutter.

An dem Wochenende, an dem sie starb, war ich nicht einfach ‘irgendwo unterwegs’. Ich war bei einem Winterkonvoi im Norden eingeteilt. Wir sollten Medikamente und Geräte in eine Klinik bringen. Für mich war das ein Auftrag mit hoher Gefahrenzulage. Geld für die neue Therapie, von der deine Mutter träumte.

Als die ersten Ärzte sagten, sie habe vielleicht noch drei Tage, stand ich irgendwo auf einer vereisten Autobahnauffahrt. Ich hätte umdrehen können, den Auftrag abbrechen, rechtzeitig an ihrem Bett sitzen. Oder ich konnte die Tour zu Ende fahren, das Geld bringen und ihr vielleicht drei Monate kaufen.

Ich habe falsch gewählt. Oder richtig. Ich weiß es bis heute nicht. Deine Mutter hat jedenfalls entschieden, dass ich fahren soll. Sie hat unsere Nachbarin gebeten, mir nicht sofort Bescheid zu sagen. ‘Lass ihn fahren’, hat sie gesagt. ‘Lass ihn den Auftrag fertig machen.’

Als ich am Montagmorgen ins Krankenhaus kam, war ich drei Stunden zu spät.

Seitdem lebe ich mit dieser Entscheidung. Dass du mich dafür hasst, hat sich immer fair angefühlt.

Nach ihrem Tod brauchtest du jemanden, den du verantwortlich machen konntest. Jemanden, der nah genug war. Ich habe dir das gelassen. Es war leichter, als wenn du deine Wut auf eine Krankheit richten musstest, gegen die man nicht schreien kann.

Jeder zusätzliche Auftrag, den du gehasst hast, jede Woche, in der ich kaum zu Hause war, war ein Versuch, dein Leben aufzubauen. Jede Nachtschicht, jedes Wochenende unterwegs – das alles steckt auf diesem Konto, das deinen Namen trägt.

Ich hätte es dir sagen können. Dir die Kontoauszüge zeigen. Aber du bist gegangen. Du hast dir ein neues Leben gebaut, weit weg von unserer kleinen Wohnung und vom Geruch nach Diesel. Warum hätte ich dich mit der Wahrheit belasten sollen?

Jetzt schließt du dein Studium ab. Du fängst dein eigenes Leben an. Ich wollte, dass du weißt: Jeder Kilometer, den ich gefahren bin, war für dich. Jeder Stau, jede vereiste Straße, jede Nacht auf dem Parkplatz.

Die Kollegen, die du verachtest, haben mitgeholfen. Peter hat 3.000 Euro reingetan. Murat hat jede Überstunde angenommen, um 5.000 Euro beizusteuern. Lotte ist auf kleinere Touren gegangen, damit ich die langen, besser bezahlten fahren konnte. Weil wir so sind. Wir kümmern uns umeinander. Auch um Kinder, die uns vergessen haben.

Ich verlange keine Verzeihung. Kein ‘Papa, lass uns neu anfangen’. Ich will nur, dass du weißt: Der Mann, den du in deinem Kopf begraben hast, hat dich nie aufgegeben.

Jede Delle an meinem Laster kommt von Fahrten, die dein Leben leichter gemacht haben. Jede Narbe an meinen Händen stammt von Reifenwechseln im Schneesturm, damit deine Miete pünktlich gezahlt wurde. Jedes graue Haar kommt von Nächten, in denen ich mich gefragt habe, ob du genug isst, genug schläfst und ob dich jemand gut behandelt.

Ich bin stolz auf dich, Mäuschen. Stolz auf die Frau, die du geworden bist. Deine Mutter wäre es auch.

In Liebe
Der Mann, den du für unwichtig hältst“


Ich las den Brief zweimal. Dreimal. Beim vierten Mal musste ich mich übergeben. Beim fünften Mal rief ich Anna an.

„Der Mann bei der Abschlussfeier“, sagte ich mit rauer Stimme. „Der mit der Arbeitsjacke. Das war mein Vater.“

„Ich dachte, dein Vater ist… gestorben?“

„Das dachte ich auch“, flüsterte ich.


Ich fand ihn dort, wo er schon immer gewesen war: auf dem Hof eines kleinen Transportunternehmens am Rand meiner Heimatstadt. Die Halle war alt, die Farbe blätterte, das Firmenschild war halb verblasst. Aber der Hof war voll mit Lastern.

Er lag unter einem der Fahrzeuge, als ich eintrat. Ich erkannte zuerst die schweren Sicherheitsschuhe.

„Papa?“

Er rollte langsam hervor. Älter. Grauer. Dünner als in meiner Erinnerung.

„Mäuschen?“

Ich nickte nur. Meine Kehle war wie zugeschnürt.

„Warum hast du mir das nicht gesagt?“, fragte ich schließlich.

Er setzte sich, wischte sich die Hände mit einem Lappen ab, der sie nur noch schwärzer machte.

„Was genau? Dass ich pleite bin? Dass dein Studium von Nachtschichten, Mautrechnungen und kaltem Kaffee bezahlt wurde? Dass ich vier Jahre lang im Laster geschlafen habe, damit die Miete für dein Zimmer in der Unistadt sicher ist? Was hätte dir das gebracht?“

„Ich hätte es verstanden.“

„Nein“, sagte er leise. „Du hättest dich schuldig gefühlt. Hättest vielleicht aufgegeben, wärst zurückgekommen, um mir zu ‘helfen’. Du musstest weitergehen. Du brauchtest jemanden, auf den du wütend sein konntest. Nicht jemanden, um den du dich kümmern musst.“

„Ich habe überall erzählt, du wärst tot.“

„Ich weiß.“

„Woher?“

Er zuckte mit den Schultern. „Jemand hat mir einen Artikel geschickt. Über dich. Über das ‘Waisenkind vom Plattenbau’, das es bis an eine Elite-Uni geschafft hat. Danach war klar, was du den Leuten erzählst. Es hat weh getan. Aber ich habe verstanden, warum.“

Ich sah mich in der Halle um. An einer Wand hingen Fotos. Viele Fotos. Schulbilder von mir. Ein Schnappschuss vom Abschluss der zehnten Klasse. Zeitungsausschnitte. Und mittendrin – eingerahmt – eine Kopie meines Zulassungsbescheids der Universität.

„Woher hast du das?“, flüsterte ich.

„Frau Lehmann von nebenan“, sagte er und lächelte schief. „Du hast ihn ihr gezeigt. Sie hat mir eine Kopie gemacht. Das war der stolzeste Tag meines Lebens.“

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