In diesem Moment ging Jonas zu Bergs Maschine – einer großen, schwarzen, alten Maschine mit tiefem Klang – legte beide Hände an den Tank und machte den lautesten Laut des Abends:
„DONNER!“
Alles erstarrte.
Ich hörte auf zu atmen.
„Hat er gerade…?“, flüsterte jemand.
„Donner!“, wiederholte Jonas, klopfend auf den Tank. „Donner!“
Bergs Augen füllten sich mit Tränen. Dieser große Mann, der aussah, als könnte ihn nichts erschüttern, stand plötzlich da wie ein kleiner Junge.
„So nennen sie mich“, sagte er heiser. „Die Donnerfreunde. Wegen der Maschine.“
Er ging in die Hocke, auf Augenhöhe mit Jonas, und flüsterte: „Ja, Kleiner. Das ist Donner. Und du hast meinen Namen gesagt.“
Es war Jonas’ erstes Wort seit fünf Jahren.
Die nächsten Stunden verschwammen. Die Polizei blieb, bis klar war, dass wirklich alles sicher war. Meine Mutter kam völlig aufgelöst auf dem Parkplatz an. Jonas blieb die ganze Zeit bei den Maschinen.
Die Männer starteten immer wieder kurz ihre Motoren, gaben wenig Gas, warteten auf Jonas’ Antwort.
Nicht alles waren Worte, aber alles war bewusst. Kein zufälliges Geräusch, sondern Versuch und Antwort.
Anke erklärte mir, die Motoren seien wie eine Brücke zwischen Jonas’ Innenwelt und der Außenwelt. Die Vorhersehbarkeit der Geräusche, die Vibrationen, der direkte Zusammenhang – Hand hoch, Motor laut; Hand runter, Motor leise – gäben ihm ein Gefühl von Kontrolle, das er sonst nicht habe.
Gegen Morgengrauen stand ich mit Berg ein wenig abseits, Jonas lehnte mit dem Kopf an seinem Tank.
„Meinen Sie das ernst?“, fragte ich. „Mit den wöchentlichen Treffen?“
„Sie haben heute Nacht gesehen, was passiert ist, oder?“, erwiderte er. „Für meinen kleinen Bruder gab es so etwas nicht. Er war früher auch still, ganz in sich gekehrt. Damals hat niemand verstanden, was los ist. Er ist erwachsen geworden, aber nie richtig angekommen in dieser Welt. Wenn ich einem anderen Jungen helfen kann, bevor es so weit kommt, dann mache ich das. Ganz ohne Wenn und Aber.“
Ich konnte nur nicken.
Eine Woche später trafen wir uns in der besagten Lagerhalle am Stadtrand. Ein großes, leeres Gebäude, früher ein Möbelhaus, jetzt vom Verein gemietet, um an den Maschinen zu schrauben.
Sie hatten einen Halbkreis aus Motorrädern aufgebaut, alle mit genügend Abstand. Anke hatte Ohrenschützer für Jonas mitgebracht, falls es ihm doch zu laut würde.
Zu Beginn stand Jonas unsicher in der Tür, den Blick am Boden. Dann hörte er das erste tiefe „Brumm“ von Bergs Maschine.
Sein Kopf schnellte hoch. Er ging langsam nach vorn, Schritt für Schritt, und legte schließlich eine Hand auf das Metall.
„Donner“, murmelte er, leiser als letzte Woche, aber deutlich. „Donner da.“
Ich weinte schon wieder.
Mit der Zeit etablierte sich ein Ritual. Jeden Samstagvormittag: „Motorenstunde“, wie wir sie nannten.
Die Männer kamen teilweise direkt von der Nachtschicht bei der Feuerwehr, vom Spätdienst im Krankenhaus, aus der Werkstatt. Einer brachte jedes Mal Brötchen mit, ein anderer Kaffee in Thermoskannen.
Jonas bestimmte, welche Maschine startete, wie laut sie wurde, wie lange. Er hob die Hand, senkte sie, und die Männer folgten geduldig. Er ahmte die Geräusche nach, manchmal erstaunlich genau.
Nach ein paar Wochen begann er, eigene Wörter zu finden.
Die leisen Maschinen bekamen das Wort „sanft“.
Die älteren, knatternden nannte er „alt“.
Eine neuere, sehr laute Maschine hieß bei ihm „zu doll“, und er hielt sich die Ohren zu, wenn sie anging.
Jedes dieser Worte war ein Geschenk.
Anke lud Kolleginnen ein, eine Psychologin aus der nahegelegenen Uniklinik kam vorbei und beobachtete Jonas. Alle waren beeindruckt, vorsichtig hoffnungsvoll.
„Es ist kein Wundermittel“, sagte Anke immer wieder. „Aber es ist ein Zugang, den wir vorher nicht hatten.“
Die echte Zäsur kam etwa sechs Wochen später.
Ein Gastfahrer war da, ein älterer Mann mit einer liebevoll restaurierten Maschine aus den fünfziger Jahren. Sie klang anders – weicher, warm, fast wie ein tiefes Lachen.
Jonas ging direkt auf diese Maschine zu.
Er legte beide Hände an den Tank, spürte die Vibrationen und drehte sich dann zu mir um.
„Mama“, sagte er. Ganz klar. Ohne Mühe. „Mama schön.“
Mir wurde schwarz vor Augen. Ich weiß nicht, ob ich gefallen wäre, wenn Berg mich nicht aufgefangen hätte.
„Noch mal“, flüsterte ich, die Hände vor dem Mund. „Bitte, Schatz…“
Jonas kam zu mir, legte seine kleine, warme Hand an meine Wange und sagte: „Mama weint.“
„Vor Glück“, brachte ich heraus. „Mama ist glücklich.“
„Glück“, wiederholte er. Dann lief er wieder zu den Maschinen. „Glück Donner. Glück Brumm.“
Die großen Männer standen im Halbkreis und wischten sich verstohlen über die Augen.
Das ist jetzt acht Monate her.
Jonas spricht inzwischen in kurzen Sätzen. Nicht immer deutlich, nicht immer passend, aber er spricht.
Er sagt mir, wenn er hungrig ist. Wenn ihm etwas zu laut ist. Wenn er aufs Klo muss. Letzte Woche, beim Zubettgehen, kam er plötzlich zu mir, legte sich auf meine Brust und sagte: „Hab dich lieb, Mama.“
Ich glaube, mein Herz wird sich nie wieder ganz beruhigen.
Der Motorradverein hat Jonas zum Ehrenmitglied gemacht. Er bekam eine kleine Weste mit extra angefertigten Aufnähern: „Kleiner Donner“, „Meine Stimme ist laut“ und „Motorenfreund“.
Samstags ist für ihn heiliger als jeder Feiertag.
Inzwischen sind noch andere Familien dazugekommen. Zwei weitere Kinder, die kaum sprechen, ein Jugendlicher, der große Probleme mit Berührungen hat. Für sie alle wurden die Maschinen zu etwas anderem als nur Lärm: zu einem Werkzeug, zu einer Art Sprache.
Eine kleine Stiftung aus der Region hat dem Verein Geld gegeben, um einen Nebenraum der Halle auszubauen. Dort stehen jetzt Lautsprecher, vibrierende Platten, Sitzsäcke – für Kinder, die sich noch nicht an die echten Maschinen trauen.
„Warum, glauben Sie, funktioniert das so gut?“, fragte ich Berg vor kurzem, als wir Jonas beobachteten, wie er seine „Motorensymphonie“ dirigierte.
„Für uns ist es doch ähnlich“, sagte Berg. „Die Welt ist manchmal zu viel. Zu hell, zu laut – aber auf eine komische Art. Voller Forderungen, Papierkram, Termine. Auf dem Motorrad gibt es nur noch den Motor, die Straße, den eigenen Atem. Alles wird einfacher. Klarer.“
Er deutete auf Jonas.
„Dein Junge hat sich eine Welt gebaut, in der zu viele Dinge keinen Sinn ergeben. Wir geben ihm etwas, das einfach ist. Gas – Laut. Hand runter – Leise. Stahl, der brummt. Darauf kann er aufbauen.“
Ich lachte. „Er ist acht. Noch lange kein eigener Führerschein.“
„Ja, ja“, sagte Berg grinsend. „Ich rede von Schlüsseln im übertragenen Sinn. Aber eines Tages fährt er. Und dann werden wir alten Säcke in einer langen Reihe hinter ihm her tuckern.“
Vor ein paar Monaten meldete sich Jonas’ Vater.
Er hatte einen Bericht in einer Online-Zeitung gesehen. „Motorradverein hilft autistischem Jungen, nach Jahren wieder zu sprechen“, stand dort sinngemäß.
Plötzlich wollte er seinen „gesund gewordenen“ Sohn wiedersehen.
Ich traf ihn allein in einem Café in der Innenstadt.
„Er ist nicht gesund geworden“, sagte ich, bevor er richtig anfangen konnte. „Er war nie krank in dem Sinne. Er ist immer noch autistisch. Er wird immer besondere Unterstützung brauchen. Er hat nur einen Weg gefunden, sich mehr mitzuteilen.“
„Durch Motorräder?“, fragte er spöttisch. „Das ist doch gefährlich. Was ist, wenn er sich verletzt? Und diese Typen… du weißt doch gar nicht, mit wem du dich da einlässt.“
Ich musste tatsächlich lachen.
„Wissen Sie, was gefährlich war?“, sagte ich ruhig. „Ihr Weggehen. Jonas aufzugeben. Diese Männer, die Sie so abschätzig ‚diese Typen‘ nennen, haben ihn von einer Bundesstraße geholt, auf der er sonst vielleicht gestorben wäre. Und danach haben sie ihm geholfen, zum ersten Mal seit Jahren wieder Mama zu sagen.“
Er sprach von Anwälten, von Umgangsrecht, davon, dass er sich „Sorgen um den Einfluss“ mache.
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können“, antwortete ich. „Ich bringe dann gerne Anke mit, die Logopädin, die Psychologin aus der Klinik, die Polizisten, die ihn damals auf der Straße gesehen haben und vierzehn Männer, die bereit waren, mitten in der Nacht ihre Maschinen laufen zu lassen, damit mein Sohn zum ersten Mal wieder lacht.“
Er meldete sich nicht mehr.
Heute Abend sitze ich an Jonas’ Bett.
Er spricht inzwischen sogar im Schlaf. Meistens einfache Worte, manchmal nur Klangstücke: „Brumm“, „Donner“, „Glück“. Aber es sind Worte. Klare, schöne, kleine Wunder.
Über seinem Bett hängen Fotos der letzten Monate.
Jonas in seiner kleinen Weste, stolz wie ein König zwischen den riesigen Männern. Jonas auf Bergs Maschine – der Motor aus, die Hände fest am Lenker. Jonas mitten in der Halle, Arme erhoben, während eine halbe Reihe Motorräder kurz Gas gibt und ihm gehorcht.
Mein Lieblingsbild ist von jener ersten Nacht. Jemand aus dem Verein hat es mit dem Handy gemacht.
Man sieht Jonas im Schlafanzug, barfuß auf dem kalten Beton, mitten in einem Kreis von Motorrädern. Sein Mund ist offen vor Staunen, seine Hände in der Luft, und ich weiß, in diesem Moment hat er nach fünf Jahren wieder angefangen, zu sprechen – in seiner eigenen Sprache.
Und um ihn herum stehen keine Bedrohungen, keine „Rockertypen“, vor denen man Angst haben müsste, sondern ein Kreis aus schützenden Gestalten, die ich inzwischen nur noch so nenne:
Lederne Schutzengel.
Die Fachleute nennen das, was passiert ist, „ungewöhnlichen Therapieerfolg“.
Die Ärztinnen sagen „spannender Einzelfall“.
Die Männer vom Verein nennen es einfach „Familie“.
Und Jonas?
Wenn man ihn fragt, warum ausgerechnet Motorräder ihm beim Sprechen geholfen haben, runzelt er die Stirn, denkt nach und sagt dann:
„Motoren reden Jonas-Sprache. Jonas redet Motoren-Sprache. Gleiche Sprache.“
Gleiche Sprache.
Morgen ist wieder Samstag.
Seine kleine Weste hängt schon über dem Stuhl. Die Ohrenschützer liegen bereit, die Karten mit Symbolen für „Pause“, „zu laut“, „noch mal“. Er braucht sie immer seltener.
„Donnerfreunde morgen?“, fragte er heute beim Abendessen.
„Ja, Schatz“, sagte ich. „Morgen Donnerfreunde.“
Er lächelte. „Jonas glücklich. Mama glücklich. Donner glücklich. Alle glücklich.“
„Alle glücklich“, bestätigte ich.
Und das sind wir. Auf unsere besondere, laute, brummende Art.
Gefunden, gehört, verbunden – in einer Sprache, die nicht aus Grammatik besteht, sondern aus Vibrationen und Mut.
In der Sprache des Donners.






