Der Brief klebte noch an der Glastür, als ich schon hundert Kilometer weiter war, und trotzdem fühlte ich Sabines Blick im Nacken wie eine Hand, die mich zurückziehen wollte.
Kuno saß neben mir auf dem Beifahrersitz, so aufrecht, wie es seine alten Knochen zuließen, und in seinem leisen Hecheln lag etwas wie Zustimmung: Wir sind unterwegs, Gefährte.
Die Autobahn fraß Kilometer, graues Band unter grauem Himmel, und der Diesel sang sein ehrliches Lied, dieses tiefe Grollen, das nicht so tut, als wäre alles leicht.
Links und rechts zogen die bekannten Schilder vorbei, Orte, die ich früher nur als Ausfahrten kannte, wenn wir auf dem Weg in den Urlaub waren, als meine Frau noch lebte und Sabine hinten auf der Rückbank „Sind wir gleich da?“ rief.
Ich hatte kein Navi, nur eine zerknitterte Karte, die nach altem Handschuhfach roch, und meinen eigenen Instinkt, der mehr Reparaturen gesehen hatte als Sonnenaufgänge.
Kuno drückte ab und zu seine Schnauze gegen die Fensterscheibe, als könnte er den Süden riechen, als läge hinter jeder Leitplanke ein Wald, der ihn beim Namen rief.
Am ersten Rastplatz hielt ich an, weil der Kaffee in meiner Thermoskanne nach Abschied schmeckte und ich etwas Warmes brauchte, das nicht Erinnerung war.
Der Wind zog über den Parkplatz und spielte mit den Jacken der Leute wie mit Fahnen, alle in Eile, alle mit Blick auf irgendwas in ihrer Hand, das ihnen sagte, wer sie sein sollten.
Ein Mann in einer knalligen Warnweste stellte sich neben mein Wohnmobil und musterte den Rostfleck am Kotflügel, als hätte ich einen alten Fehler öffentlich gemacht.
„Mutig“, sagte er und grinste. „Mit so ’nem Ding noch auf die Bahn?“
„Mutig ist relativ“, antwortete ich. „Ich hab vierzig Jahre lang Motoren am Leben gehalten. Die dankbarsten sind meistens die, die schon abgeschrieben wurden.“
Kuno gab ein kurzes, trockenes Schnauben von sich, als würde er das Wort „abgeschrieben“ nicht mögen.
Der Mann beugte sich runter und sah Kuno an, sein Grinsen wurde weicher.
„Der ist aber kein leichter.“
„Er ist mein Grund, warum ich nicht unterschrieben habe“, sagte ich.
Und das war wahrer, als ich es vor mir selbst zugeben wollte.
Ich ging rein, holte zwei belegte Brötchen und einen Kaffee, und als ich zurückkam, stand ein junger Typ neben meinem Wohnmobil und fluchte leise vor sich hin.
Er rüttelte an der Motorhaube seines Kleinwagens, als könne er die Physik beleidigen, bis sie nachgibt.
„Springt nicht an?“ fragte ich.
Er hob den Blick, Augenringe wie Klammern unter den Augen. „Batterie. Oder irgendwas. Ich muss weiter. Ich hab… ich hab Termine.“
„Termine sind geduldig“, sagte ich und stellte meinen Becher auf die Stoßstange. „Mach mal die Haube auf.“
Er zögerte, als wäre Hilfe heutzutage etwas, das man zuerst durch AGB lesen muss.
Dann zog er den Hebel, und ich hörte sofort dieses leise Klicken, das mir alles sagte: Strom da, aber nicht genug, und wahrscheinlich ein Kontakt, der so müde war wie wir alle.
Ich arbeitete ruhig, ohne große Worte, so wie man früher gearbeitet hat, wenn man nicht wollte, dass der Stolz des anderen verletzt wird.
Der Junge sah mir zu, und in seinem Blick lag etwas Ungläubiges, als hätte er nicht erwartet, dass ein Fremder stehenbleibt, ohne etwas dafür zu filmen.
Kuno stand neben mir, wackelig, aber präsent, und legte sich schließlich einfach hin, direkt neben die Reifen, wie ein alter Wachhund, der sagt: Hier passiert nichts Böses.
Als der Motor wieder ansprang, atmete der junge Mann aus, als hätte er drei Tage lang nicht richtig Luft geholt.
„Was kriegen Sie?“ fragte er hastig und griff schon in die Tasche.
„Nichts“, sagte ich. „Und wenn du mir wirklich was geben willst: Ruf heute jemanden an, der dir was bedeutet, bevor du wieder so müde wirst, dass du nur noch schreist.“
Er schluckte, nickte einmal, zu schnell, und fuhr los, als hätte er Angst, das Gefühl von Dankbarkeit könnte ihn einholen.
Ich nahm meinen Kaffee wieder in die Hand und merkte, dass er inzwischen kalt war, aber mein Brustkorb war ein bisschen wärmer geworden.
Später, als die Landschaft hügeliger wurde und die Luft sich anders anfühlte, stoppte ich auf einem kleinen Parkplatz oberhalb eines Feldes.
Keine Werbung, kein Lärm, nur der ferne Klang eines Traktors und die Art Stille, die man früher noch kannte, bevor alles immer etwas sagen musste.
Ich öffnete die Wohnmobiltür, und Kuno sprang nicht mehr, er stieg langsam aus, wie ein alter Mann, der darauf achtet, dass ihm keiner beim Treppensteigen zusieht.
Sein Atem ging schwer, und ich tat so, als wäre das nur vom langen Sitzen, nicht von der Zeit.
„Ganz ruhig, mein Junge“, murmelte ich und strich über sein stichelhaariges Fell.
Seine Augen suchten mein Gesicht, blindfleckig vom Grauen Star, aber trotzdem sicher, als hätte er mich in jeder Version erkannt, die ich je war.
In der Nacht schlief ich im Fahrersitz, weil das Bett im Wohnmobil nach fremdem Leben roch, und ich noch nicht bereit war, mich da reinzulegen, als wäre es schon mein Zuhause.
Kuno lag auf seinem mitgebrachten Kissen, und jedes Mal, wenn er sich bewegte, hörte ich das leise Rascheln seines alten Halsbandes wie eine Uhr, die nicht stehenbleiben wollte.
Am Morgen fand ich auf meinem Telefon drei verpasste Anrufe.
Sabine.
Ich starrte auf ihren Namen, und mein Daumen schwebte über dem Rückrufknopf, als wäre das ein roter Alarm, nicht ein Kind, das sich sorgt.
Dann rief ich zurück, weil Weglaufen leicht ist, aber Würde ist es, stehenzubleiben – auch am Telefon.
„Papa?“ Ihre Stimme kam sofort, zu schnell, zu dünn. „Wo bist du? Was machst du denn?“
Ich hörte im Hintergrund Geräusche, Tastaturen, Türen, ihr Leben, das immer gleichzeitig passiert.
„Unterwegs“, sagte ich. „Richtung Süden. Kuno ist bei mir.“
„Du kannst doch nicht einfach verschwinden“, presste sie hervor, und die Wut klang wie Angst im Mantel.
„Doch“, sagte ich leise. „Ich kann. Ich hab mein ganzes Leben lang gefragt, ob es passt. Jetzt stell ich den Stuhl hin, ohne um Erlaubnis zu bitten.“
Kurzes Schweigen, dann atmete sie hörbar ein.
„Ich will nur… ich will nicht, dass du irgendwo…“ Sie brach ab, weil der Satz sonst zu dunkel geworden wäre.
„Ich bin nicht irgendwo“, sagte ich. „Ich bin genau da, wo ich sein muss. Und ich ruf dich an, wenn ich irgendwo länger bleibe.“
„Versprich’s“, sagte sie sofort.
Ich sah zu Kuno, der den Kopf hob, als hätte er ihren Tonfall verstanden.
„Ich verspreche es“, sagte ich. „Aber du musst mir auch was versprechen.“
„Was?“
„Dass du dich nicht schämst, dass du mich nicht ins Heim gekriegt hast. Du hast getan, was du konntest.“
Ihre Stimme wurde kleiner. „Und du? Tust du, was du kannst?“
Ich legte die Hand auf den Armaturenbrett-Rand, als würde ich dem Wohnmobil kurz die Wahrheit beichten.
„Zum ersten Mal seit langem“, sagte ich.
Als ich auflegte, blieb ein Kloß im Hals, aber er war nicht aus Schuld, sondern aus dieser neuen Sorte Traurigkeit, die entsteht, wenn man jemanden liebt und trotzdem einen anderen Weg geht.
Kuno leckte einmal über meine Hand, trocken und warm, und das war sein Kommentar zu allem.
Ich fuhr weiter, hinein in eine Gegend, in der die Häuser kleiner wurden, die Gärten echter und die Berge am Horizont nicht mehr aussahen wie Postkarten, sondern wie Versprechen.
Die Straße wurde schmaler, kurviger, und der Diesel musste arbeiten, so wie ich früher, wenn der Winter kalt war und irgendwer am Sonntagabend mit einem kaputten Heizungskessel anrief.
Kurz vor einem Pass begann das Wohnmobil zu ruckeln.
Nicht dramatisch, nicht filmreif, nur dieses ehrliche Stottern, das sagt: Du hast mich zu lange nicht ernst genommen.
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