Ich wollte meine Mutter abschieben, dann fand ich ihre Tagebücher auf dem Dachboden

Als ich dort kniete, die Stirn gegen ihre Hände gedrückt, verstand ich plötzlich: Das hier war nicht nur eine Entschuldigung, sondern ein verspätetes Zurückkommen. Nicht an einen Ort, sondern zu einer Frau, die ich jahrelang wie einen Hintergrundton behandelt hatte, obwohl sie mein ganzes Leben lang die Melodie gewesen war.

„Michael… was machst du denn?“, fragte sie leise, und in ihrer Stimme lag etwas, das mich noch mehr traf als jedes Tagebuchwort – diese vorsichtige Sorge, als müsste sie die Welt immer noch zusammenhalten, selbst wenn ihr Körper längst müde war. „Hast du Schmerzen? Soll ich… soll ich jemanden rufen?“

„Nein“, sagte ich, und meine Kehle war so eng, dass das Wort wie ein Stein herausfiel. „Ich hab nur… ich hab so lange falsch hingeschaut.“ Ich hob den Kopf, sah in ihre trüben Augen, und plötzlich war da dieser kindische Wunsch, sie möge mich erkennen wie früher, als würde ein Blick alles reparieren, was ich in drei Jahrzehnten beschädigt hatte.

Sie zog die Hände einen Zentimeter zurück, als wäre sie unsicher, ob sie mich berühren darf, und dann tat sie es trotzdem. Ihre Finger strichen über mein Haar, langsam, tastend, wie jemand, der im Dunkeln eine vertraute Kante sucht. „Du bist immer so ernst gewesen“, murmelte sie, und ein winziger Hauch von Lächeln flackerte über ihr Gesicht. „Schon als kleiner Junge… hast du immer so geguckt, als würdest du die ganze Welt tragen.“

Die Tür ging leise auf, eine Pflegerin steckte den Kopf herein, sah mich am Boden und erstarrte einen Moment, als hätte sie etwas Privates betreten, das sie nicht stören wollte. „Alles in Ordnung hier?“, fragte sie vorsichtig, und ich hörte in diesem Ton, dass sie solche Szenen kannte, nur eben meistens zu spät, wenn die Worte nicht mehr kommen und die Zeit bereits ein abgeschlossenes Kapitel ist.

„Ja“, sagte ich schnell, wischte mir über das Gesicht und zwang mich aufzustehen. „Alles gut. Entschuldigung… ich…“ Meine Stimme brach, und ich hasste mich dafür, weil ich immer noch versuchte, vor Fremden kontrolliert zu wirken, während meine Mutter ihr Leben lang Kontrolle gespielt hatte, um mich zu schützen.

Die Pflegerin nickte, stellte ein Glas Wasser auf den Tisch und zog sich zurück, als würde sie uns eine Decke aus Ruhe über die Schultern legen. Ich setzte mich auf den Stuhl neben dem Fenster, so nah, dass mein Knie fast ihr Rollstuhlrädchen berührte, und schaute hinaus auf den grauen Parkplatz, auf dem ein einsamer Einkaufswagen wie ein vergessener Gedanke im Wind klapperte.

„Ich war auf dem Dachboden“, begann ich, und ich merkte sofort, wie absurd es klang, als wäre der Dachboden ein Land, aus dem man Nachrichten mitbringt. „Ich wollte… ich wollte alles wegwerfen. Ich wollte das Haus verkaufen.“ Ich sah, wie ihre Augen kurz flackerten, nicht klar, aber doch wie ein reflexartiger Stich, als ob ein altes Gefühl in ihr aufstand und sich wieder hinsetzte.

„Das Haus…“, sagte sie langsam. „Lavendel… im Flur.“ Dann wurde ihr Blick wieder milchig, als würde die Erinnerung an einer Stelle abbrechen, an der die Straße plötzlich im Nebel endet. „Du brauchst doch Platz“, fügte sie hinzu, und es war so typisch, dass ich fast lachen musste vor Schmerz – selbst jetzt dachte sie zuerst an mich, an meine Ordnung, an meine Zukunft.

„Mama“, sagte ich, und ich zwang mich, das Wort nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen, sondern wie eine Heimkehr. „Ich hab etwas gefunden.“ Ich griff in meine Tasche und zog eines der kleinen spiralgebundenen Notizbücher hervor, das ich in letzter Sekunde vom Dachboden mitgenommen hatte, als hätte ich geahnt, dass ich es nicht mehr aus der Hand legen würde.

Sie sah das Heft an, als wäre es ein fremdes Objekt, und dann glitt ihr Blick weg, zu ihrem eigenen Schoß, zu ihren dünnen Knien unter der Decke. „Ist das… ist das deins?“, fragte sie, und in dem Moment merkte ich, wie schwer es sein muss, in einem Kopf zu leben, in dem die Schubladen manchmal falsch beschriftet sind.

„Nein“, sagte ich, so sanft ich konnte. „Das ist deins.“ Ich atmete einmal tief ein, und der Geruch im Zimmer – Desinfektion, warmer Tee, ein Hauch von Waschmittel – mischte sich in meiner Erinnerung mit Lavendel und Staub. „Ich hab gelesen, was du geschrieben hast. Über 1998. Über den Ring.“

Ihre Lippen öffneten sich einen Spalt, als wollte sie etwas sagen, doch es kam nichts. Dann presste sie die Lippen zusammen, und ein Schatten zog über ihr Gesicht, so schnell, dass ich ihn fast übersehen hätte. „Ring“, wiederholte sie leise, und ich wusste nicht, ob sie sich erinnerte oder ob sie nur das Wort nachsprach wie ein Echo.

„Ich dachte, du hättest einfach… mehr gearbeitet“, sagte ich, und der Satz war gleichzeitig eine Beichte und eine Anklage gegen mein früheres Ich. „Ich wusste nicht, dass du… dass du das Einzige…“ Ich schluckte, weil ich plötzlich begriff, dass ich in ihrem Leben immer nur die Ergebnisse gesehen hatte, nie die Kosten.

Sie hob den Blick, und für einen kurzen, klaren Moment war etwas in ihren Augen, das mich durchbohrte: Müdigkeit, ja, aber auch eine Art ruhige Entschlossenheit, die ich als Kind immer für Kälte gehalten hatte. „Es war nur ein Ring“, sagte sie, erstaunlich deutlich, und der Satz traf mich wie eine Ohrfeige, weil er so klein klang für etwas, das so groß gewesen war.

„Nein“, widersprach ich, und ich hörte, wie meine Stimme zitterte. „Es war… es war ein Stück von dir.“ Ich klappte das Notizbuch auf, suchte den Eintrag, den ich auf dem Dachboden gelesen hatte, und meine Finger zitterten, als würde ich eine heilige Seite umblättern. „Da steht, du hast das Mittagessen ausgelassen. Für meine Fußballschuhe.“

Sie schloss die Augen, nicht dramatisch, eher wie jemand, der sich gegen eine Welle stützt. „Du bist gerannt, als hättest du Flügel“, flüsterte sie, und dann kam dieses brüchige Lächeln wieder. „Du warst so stolz. Ich hab gedacht… wenn du rennst, kommst du vielleicht weiter weg als ich.“

Der Satz hing zwischen uns, und ich verstand plötzlich, dass Liebe manchmal nicht sagt: Bleib bei mir, sondern: Geh weiter, auch wenn ich zurückbleibe. Ich wollte ihr sagen, dass ich nicht weiter gekommen war ohne sie, dass sie in jedem Schritt meines Lebens mitgelaufen war, unsichtbar, schweigend, wie ein Schatten, der nie verschwindet.

„Warum hast du mir nie etwas gesagt?“, fragte ich, und in der Frage lag kein Vorwurf mehr, nur Staunen. „Warum hast du das alles allein getragen?“

Sie sah mich an, und diesmal war der Blick nicht trüb, sondern fern, als würde sie etwas abtasten, das weit hinten in ihr liegt. „Weil du ein Kind warst“, sagte sie schlicht. „Kinder sollen… sollen schlafen können.“ Sie stockte, suchte nach Worten, und ich merkte, wie anstrengend es für sie war, Sätze zusammenzuhalten. „Wenn du wüsstest… wenn du wüsstest, wie laut die Gedanken nachts sind, dann…“ Sie brach ab, schüttelte minimal den Kopf, als würde sie den Rest wieder zurück in die Schublade schieben.

Ich spürte, wie eine andere Frage in mir drängte, eine, die ich seit Jahren nicht auszusprechen wagte, weil sie wie eine offene Tür in einen kalten Raum war. „Und Papa?“, hörte ich mich sagen, und mein eigener Mut erschreckte mich. „Warum ist er gegangen?“

Ihre Hand krampfte kurz um die Armlehne, und ihr Blick rutschte weg zum Fenster, als müsste sie sich an etwas Festem orientieren. „Er war… ein Mann“, sagte sie nach einer Pause, in der das ganze Zimmer atmete. „Er hat versprochen. Dann hat er… nicht gehalten.“ Mehr kam nicht, und vielleicht war das alles, was sie noch geben konnte, vielleicht war das alles, was sie je geben wollte, weil manche Wunden nicht dadurch heilen, dass man sie zeigt.

Ich nickte, obwohl ich tausend Dinge fragen wollte, und ich begriff, dass es in dieser Stunde nicht darum ging, die Vergangenheit auszuhorchen, sondern die Gegenwart zu halten. Ich legte das Notizbuch vorsichtig auf ihren Tisch, als wäre es ein Foto, das man nicht knicken darf.

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