Ihr Sohn gab mir dieses Hemd gestern‘: Am Grab erstarrt der Millionär

Am nächsten Morgen war der Himmel hell, aber kühl. Dieses klare, deutsche Winterlicht, das so tut, als wäre alles sauber — obwohl man innen drin Chaos ist.

Johannes parkte in einer Seitenstraße an der Flussstraße. Kein Chauffeur, kein teures Auto, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Nur ein schlichtes Fahrzeug, weil er heute nicht gesehen werden wollte.

Die Kapelle war alt. Grauer Stein, ein kleines Glockentürmchen, ein Garten mit kahlen Rosenstöcken. Neben dem Eingang stand tatsächlich eine Holzbox mit einem Schild:

Kleidungsspende – Bitte nur saubere Sachen. Zum Mitnehmen für Bedürftige.

Daneben ein weiteres Schild, handgeschrieben, etwas schief:

„Nimm dir, was du brauchst. Gib, was du kannst.“

Johannes stand einen Moment davor, als wäre es ein fremdes Land.

Er hatte Millionen bewegt. Verträge unterschrieben. Meetings geführt, in denen Menschen vor ihm standen wie Schachfiguren.

Und jetzt machte ihn eine Holzkiste fertig.

Eine ältere Frau in dicker Jacke kam aus der Kapelle. Sie trug Handschuhe und eine Kiste mit sortierten Kleidern.

„Kann ich helfen?“, fragte Johannes.

Sie sah hoch, musterte ihn kurz, und dann wurden ihre Augen groß.

„Ach du meine Güte“, flüsterte sie. „Sind Sie nicht…“

Johannes hob die Hand, stoppte sie. „Bitte nicht.“

Die Frau nickte sofort, als hätte sie verstanden, dass er heute keine Rolle spielen kann.

„Sie wollen was wissen?“, fragte sie leise.

Johannes schluckte. „Die Kiste. Woher kam die letzte Lieferung? Eine große… mit Kinderkleidung.“

Die Frau überlegte. „Letzte Woche kam eine Kiste, ja. Von einem… von einer Haushaltsauflösung. Ein Mann hat sie gebracht, im Transporter. Er sagte, es sei aus einem Haus am Stadtrand.“

Johannes’ Atem stockte. „Aus meinem Haus?“

Die Frau zog die Schultern hoch, vorsichtig. „Ich… ich glaube. Es waren sehr schöne Sachen. Viele neuwertige Kinderkleider. Spielzeug.“

Johannes’ Hände wurden kalt.

„Wer hat das gebracht?“, fragte er.

„Ein Hausmeisterdienst“, sagte sie. „Oder so. Der Name…“

Sie drehte sich um, ging zu einem Brett mit Zetteln. Sie suchte eine Weile. Dann zeigte sie auf eine Notiz.

„Hier. ‚Räumung & Service Süd‘ oder so ähnlich. Keine Ahnung, ob’s stimmt. Manche schreiben irgendwas.“

Johannes nickte, obwohl sein Kopf dröhnte.

Er ging hinter die Kapelle, wo weitere Kisten standen. Der Boden war feucht, Laub klebte an seinen Schuhen.

In einer Kiste lag noch Spielzeug: ein kleines Modellauto, etwas verkratzt. Ein Papierflieger. Ein Stofftier ohne Auge.

Johannes’ Blick blieb an einem Foto hängen.

Er griff danach, als wäre es heiß.

Matthias.

Matthias mit dem Modellauto in der Hand, genau diesem. Sein Mund voller Schokoladeneis, sein Lachen so breit, dass man dachte, er könne die Welt damit aufziehen.

Johannes drehte das Foto um.

Auf der Rückseite standen Worte in seiner eigenen Handschrift, leicht verwischt:

„Hör nie auf zu lachen, Kleiner. Auch wenn Papa manchmal zu müde ist.“

Johannes’ Finger krampften sich um das Foto. Er presste die Augen zu.

Und zum ersten Mal seit langer Zeit kam etwas hoch, das er nicht mehr kannte.

Kein kontrolliertes Atmen.

Kein Wegdrücken.

Ein Geräusch, das zwischen Schluchzen und Luftholen lag.

„Es tut mir leid“, flüsterte er. „Gott… es tut mir so leid.“

Er blieb dort stehen, bis die Kälte ihm in die Knochen kroch. Bis er wieder gerade stehen konnte.

Dann fuhr er.

Nicht nach Hause.

Zum Waschsalon.

Der Waschsalon war klein, grelles Licht, der Geruch von Waschmittel und warmem Metall. Maschinen brummten gleichmäßig, als wäre das Leben eine Sache, die man einfach so wieder in Gang setzt.

Sonja saß an einem Tisch und faltete Wäsche. Amir spielte mit einem kleinen Lastwagen auf dem Boden.

Als Johannes eintrat, hob Sonja den Kopf — und erschrak.

„Herr Kern…“

Johannes blieb an der Tür stehen. Er wollte nicht zu nah sein, wollte nicht wie jemand wirken, der mit Geld Probleme löst.

„Ich wollte nur…“, begann er. „Ich wollte Ihnen danken. Für gestern.“

Sonja sah ihn verwirrt an. „Wofür?“

Johannes schluckte. „Für… dafür, dass Ihr Sohn… dass er mir —“ Er brach ab und schüttelte den Kopf. „Ich weiß, wie verrückt das klingt.“

Sonja zog Amir näher zu sich, ohne ihn festzuhalten. Nur eine schützende Bewegung, wie automatisch.

„Amir sagt manchmal Dinge“, sagte sie vorsichtig. „Er ist… sensibel. Er merkt viel. Vielleicht… hat er Ihr Gesicht irgendwo gesehen. Es gibt ja Zeitungen.“

Johannes nickte langsam. „Möglich.“

Amir stand auf. Er hielt den Lastwagen fest, als wäre es ein Schild.

„Hallo, Herr“, sagte er.

Johannes kniete sich hin, damit er nicht von oben herab sprechen musste.

„Hallo, Amir.“

Amir betrachtete ihn, ernst.

„Haben Sie die Kiste gefunden?“, fragte er.

Johannes’ Hals zog sich zusammen. „Ja.“

Amir nickte, als wäre das selbstverständlich.

„Er hat gesagt, Sie werden hingehen.“

Johannes atmete aus. „Und… sagt er noch was?“

Sonja sah ihn irritiert an. „Wer…?“

Johannes hob die Hand. „Schon gut.“

Amir trat einen Schritt näher.

„Er sagt, Sie sollen nicht so lange arbeiten“, sagte Amir. „Er sagt, Sie haben das früher auch versprochen.“

Johannes’ Augen brannten wieder. Er zwang sich zu einem kleinen Lächeln.

„Das stimmt“, flüsterte er. „Das habe ich.“

Sonja setzte sich langsam, als würden ihre Beine weich.

„Ich verstehe das nicht“, sagte sie leise. „Ich will nicht, dass Sie denken, wir machen hier irgendein…“

„Nein“, unterbrach Johannes sie sanft. „Bitte. Ich glaube nicht, dass Sie irgendwas… inszenieren.“

Er sah sich um. Der Waschsalon war nicht neu. Die Stühle waren wackelig. Sonjas Jacke hing an einem Haken, dünn.

„Sie wohnen…?“, fragte Johannes vorsichtig.

Sonja zögerte kurz. Dann sagte sie leise: „Im Moment… in einer Unterkunft. Ein Zimmer. Nicht schlimm. Nur… eng.“

Johannes nickte. Etwas in ihm, das lange tot gewesen war, bewegte sich.

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