Marc stand auf.
„Die ist verrückt“, sagte er sofort. Es kam zu schnell. Zu geübt. „Die war damals schon instabil. Die hat sich immer eingebildet, jeder wäre gegen sie.“
Hannah spürte, wie etwas in ihr klickte. Wie ein Schloss, das nie wirklich zu gewesen war.
„Du hast es gerade wieder versucht“, sagte sie leise. „In meinem Interview. Vor ihr. Vor mir. Und du dachtest, ich höre es nicht.“
Marc schnappte nach Luft.
„Du übertreibst“, zischte er. „Ich wollte dich nur wachrütteln. Du bist so empfindlich geworden—“
„Nein“, sagte Hannah.
Nur dieses eine Wort.
Marc stoppte. Als wäre er gegen eine Wand gelaufen.
Hannahs Hände zitterten, aber sie versteckte es nicht mehr. Sie ließ es da sein, ohne sich dafür zu schämen.
„Ich gehe jetzt“, sagte sie.
Marc starrte sie an.
„Wie bitte?“, sagte er.
Hannah ging an ihm vorbei Richtung Treppe.
Marc folgte ihr, schneller.
„Hannah, jetzt mal ehrlich“, sagte er, und seine Stimme wechselte. Sie wurde süß. Die Version, die immer kam, wenn er spürte, dass die Kontrolle glitt. „Du bist aufgeregt. Das verstehe ich. Aber du kannst nicht einfach…“
Hannah blieb an der Treppe stehen.
„Doch“, sagte sie.
Marc lachte wieder, diesmal schärfer.
„Wohin willst du denn?“ Er machte eine Geste um das Haus. „Das hier ist dein Leben. Das ist unser Leben. Du willst das wegwerfen wegen einer fremden Frau, die irgendwas behauptet?“
Hannah drehte sich um.
„Eine fremde Frau hat mich heute gesehen“, sagte sie. „Und du hast mich heute verachtet. Laut. Vor Zeugin.“
Marcs Gesicht verzog sich.
„Zeugin?“, spottete er. „Das war ein Online-Gespräch. Komm schon.“
Hannah starrte ihn an.
In ihr lief ein Film: Wie sie jahrelang ihre Worte vorsichtig wählte. Wie sie immer nach dem richtigen Ton suchte, damit er nicht beleidigt war. Wie sie sich entschuldigte, wenn er es verlangte – auch ohne es auszusprechen.
Sie hatte genug davon.
„Du hast mich klein gehalten“, sagte sie. „Und ich habe es zugelassen, weil ich dachte, das sei… Ehe. Das sei Normalität.“
Marc trat näher.
„Du redest Unsinn“, sagte er. „Du bist emotional. Das ist typisch. Diese ganzen Online-Kurse, diese Freundinnen, die dir einreden, du wärst—“
„Hör auf“, sagte Hannah.
Ihre Stimme war nicht laut.
Aber sie schnitt.
Marc hielt einen Moment inne.
Dann wechselte er wieder. Jetzt kam die Wut.
„Du wirst dich lächerlich machen“, fauchte er. „Du wirst scheitern, und dann kommst du zurück und ich muss wieder aufräumen. Immer ich.“
Hannah schluckte.
Es tat weh.
Aber es tat anders weh als früher. Nicht wie ein Stich, der sie zusammenfallen ließ. Eher wie etwas, das ihr zeigte, wo genau die Wunde war.
„Ich komme nicht zurück, um von dir gerettet zu werden“, sagte sie.
Sie ging die Treppe hoch.
Im Schlafzimmer zog sie eine kleine Reisetasche aus dem Schrank. Ihre Hände bewegten sich mechanisch. Jeans. Pullover. Unterwäsche. Ladekabel. Papiere.
Marc stand in der Tür.
„Du machst das nicht“, sagte er. „Hannah. Du machst das nicht.“
Hannah packte weiter.
Marc trat in den Raum und griff nach ihrem Arm.
Sein Griff war fest. Zu fest.
Hannahs Blick fiel auf seine Hand.
Und dann hob sie den Kopf.
Sie sah ihn an, nicht mit Angst, sondern mit einer Klarheit, die ihn irritierte.
„Lass mich los“, sagte sie.
Marc hielt fest.
Hannah atmete aus.
„Lass“, wiederholte sie, „mich los.“
Etwas in ihrem Ton ließ seine Finger lockerer werden. Als hätte er plötzlich begriffen, dass er nicht mehr mit der alten Hannah sprach.
Er ließ los.
Hannah zog den Arm zurück und schob den Reißverschluss der Tasche zu. Das Geräusch war klein. Und endgültig.
Sie ging an ihm vorbei. Runter die Treppe. Durch den Flur.
Marc folgte ihr, aber er blieb Abstand. Als wüsste er selbst nicht mehr, welche Version von ihm gerade wirken sollte.
An der Haustür drehte Hannah sich noch einmal um.
„Die Kinder“, sagte sie ruhig, „werden heute bei dir sein, wenn sie heimkommen. Ich schreibe Nadine, sie holt mich ab. Ich werde ihnen später erklären, was ich erklären kann.“
Marcs Augen funkelten. „Du willst sie gegen mich aufhetzen.“
Hannah schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte sie. „Ich will, dass sie mich endlich sehen.“
Dann öffnete sie die Tür und ging hinaus.
Die Luft draußen war kalt und klar.
Hannah ging den Weg zur Straße, die Tasche in der Hand, und jeder Schritt fühlte sich an, als würde sie aus einer unsichtbaren Schicht steigen.
Ihr Handy vibrierte.
Ein Text von Marc.
Komm zurück. Wir reden.
Sie las ihn. Legte das Handy wieder weg.
Ein zweiter Text.
Hannah, mach keinen Quatsch.
Ein dritter.
Du bist gerade hysterisch.
Hannah blieb kurz stehen.
„Hysterisch“, flüsterte sie. Das Wort schmeckte bitter. So oft hatte er es benutzt, um sie zu verwirren, bis sie sich selbst nicht mehr traute.
Sie öffnete die Kontakte, suchte Marc.
Ihr Daumen schwebte einen Moment.
Dann drückte sie.
Blockieren.
Der Bildschirm fragte nach Bestätigung.
Hannah bestätigte.
Der kleine digitale Schnitt fühlte sich an wie ein Seil, das abfiel.
Als Nadine zwanzig Minuten später vorfuhr, rannte Hannah nicht. Sie stieg langsam ein, als müsste sie ihrem Körper beweisen, dass sie das wirklich tat.
Nadine sagte kein „Ich hab’s dir doch gesagt“. Sie sagte nicht „Endlich“. Sie stieg aus, ging um das Auto, öffnete Hannah die Tür, sah ihr ins Gesicht und nahm sie in den Arm.
Hannah brach.
Nicht dramatisch. Nicht schön. Einfach echt.
Sie weinte in Nadines Jacke, als würde sie zwölf Jahre auf einmal ausatmen.
„Du bist da“, flüsterte Nadine. „Du bist wirklich da.“
Hannah nickte, unfähig zu sprechen.
In Nadines Wohnung roch es nach Farbe und Tee. Auf den Wänden hingen Bilder, unfertig, lebendig. Der Raum war klein, aber er fühlte sich an wie ein Ort, an dem niemand flüstern musste.
Hannah saß auf dem Sofa, eine Decke um die Schultern, und hielt eine Tasse, die ihre Hände wärmte.
„Was ist passiert?“, fragte Nadine leise.
Hannah erzählte.
Vom Interview.
Vom Mikrofon.
Von Klaras Blick.
Und von dem Satz: „Ich kenne ihn.“
Nadine hörte zu, ohne zu unterbrechen. Als Hannah fertig war, war es still.
Dann sagte Nadine: „Weißt du, was ich daran am schlimmsten finde?“
Hannah schüttelte den Kopf.
„Dass du dich entschuldigen wolltest“, sagte Nadine. „Nicht er. Du.“
Hannah sah auf ihre Hände.
„Ich…“, begann sie.
Nadine legte ihre Hand über Hannahs.
„Das ist vorbei“, sagte sie. „Nicht weil du plötzlich hart bist. Sondern weil du wach bist.“
Hannah atmete.
Am nächsten Morgen ging Hannah mit einem Kloß im Hals in die Stadt.
Das Gebäude von Voss Solutions war modern, aber nicht protzig. Glas, klare Linien, keine goldenen Buchstaben. Innen roch es nach Kaffee und Papier, nach Menschen, die arbeiten und nicht so tun, als wäre Arbeit eine Show.
Klara empfing sie nicht mit Umarmung. Klara war kein Mensch für große Gesten.
Aber sie stand auf, als Hannah den Raum betrat. Und sie reichte ihr die Hand.
„Schön, dass Sie da sind“, sagte sie.
Hannah spürte, wie viel dieser Satz wert war.
Sie setzten sich in einen kleinen Besprechungsraum. Klara hatte eine zweite Person dabei: eine Frau Mitte vierzig, ruhiger Blick, kurzer Ordner, sachliche Kleidung.
„Das ist Frau Reuter“, sagte Klara. „Sie arbeitet bei uns im Bereich Compliance und interne Abläufe. Sie wird uns helfen, die Dinge richtig zu machen. Und sauber.“
Hannah schluckte.
Frau Reuter nickte ihr freundlich zu.
„Frau Berger“, sagte sie, „ich sage Ihnen gleich: Wir machen hier keine Schnellschüsse. Wir machen keine Vorwürfe ohne Grundlage. Und wir machen nichts, was Sie später belastet.“
Hannah spürte, wie ihr Körper sich minimal entspannte.
„Ich will nur…“, begann Hannah.
Klara fiel ihr nicht ins Wort. Sie ließ sie sprechen.
„Ich will wissen, ob ich verrückt bin“, sagte Hannah. „Ob ich mir das alles eingeredet habe. Oder ob—“
„Sie sind nicht verrückt“, sagte Klara ruhig.
Dann sah Klara zu Frau Reuter.
„Es gibt zwei Ebenen“, sagte Klara. „Die eine ist Hannahs neue Stelle. Die andere ist… Marc.“
Frau Reuter nickte.
„Wir sprechen nicht über Rache“, sagte Frau Reuter. „Wir sprechen über Verantwortung. Wenn ein Mensch in einer beruflichen Funktion grundlegende Regeln gebrochen hat und diese Muster sich fortsetzen, dann ist das relevant. Aber nur, wenn es belegbar ist.“
Hannah fühlte dieses Wort in sich: belegbar.
„Ich hatte damals keinen Beleg“, sagte Klara leise. „Heute will ich keinen Fehler machen.“
Frau Reuter öffnete ihren Ordner.
„Wir beginnen bei Ihnen“, sagte sie zu Hannah. „Was haben Sie? Welche Unterlagen existieren? Nachrichten? E-Mails? Alles, was zeigt, wie er zu Hause agiert. Nicht für eine öffentliche Bühne. Nur, um Muster zu verstehen.“
Hannah dachte an die Jahre voller kleiner Sätze. Die waren nicht schriftlich. Sie waren in der Luft.
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