Ich verdiene 45.000 Euro brutto im Jahr und bin trotzdem ärmer als mein 75-jähriger Opa.
Und letzte Woche bin ich mit meinen Kisten in seinen Keller gezogen.
Es war nicht der Plan. Eigentlich wollte ich eine kleine Stadtwohnung, Aperol-Abende und das Gefühl, endlich „mittendrin“ zu sein nach meinem Marketingstudium. Stattdessen schlafe ich auf einem klappbaren Sofa, das nach Zedernholz und Mottenkugeln riecht, und höre nachts die Wasserrohre wie ferne Gewitter.
„Nur vorübergehend“, redete ich mir ein, als ich die letzte Box abstellte und an meinem Flat White nippte.
„Kostet so’n Becher wirklich fünf Euro?“, fragte Opa vom Türrahmen. In seiner Hand dampfte schwarzer Filterkaffee, so dick, dass ein Löffel stehen geblieben wäre.
„Fünf dreißig“, sagte ich. „Kleiner Luxus. Ich arbeite hart, das darf man sich mal gönnen.“
Opa zuckte mit den Augenbrauen.
„Gönn dir lieber was auf dem Sparkonto. Luxus ist, wenn am Monatsende noch was übrig bleibt.“
Mit Opa zu leben fühlt sich an wie ein Museumsbesuch in eine andere Zeit. Ein sehr kommentierter Museumsbesuch.
Im Wohnzimmer steht ein kleiner, brummender Fernseher mit Antenne. Drei Programme, wenn der Empfang freundlich ist.
Ich habe vier Streaming-Abos auf dem Laptop und scrolle öfter durch Startseiten, als ich tatsächlich etwas schaue.
„Warum zahlst du für so viel Zeug?“, fragte er, als ich wieder durch Mediatheken klickte.
„Weil Auswahl Freiheit ist“, sagte ich.
„Sieht mir eher nach verlorener Zeit aus“, brummte er und drehte den Ton der Regionalnachrichten etwas lauter.
Der eigentliche Knall kam am Freitag. Eine Woche voller Excel-Tabellen, E-Mails, verspätete Bahn. Ich wollte nicht kochen, ich wollte Frieden im Karton. Also bestellte ich mir einen Burger für 16,90, plus Lieferung, plus Trinkgeld.
Ein Klick, kein Abwasch, Ruhe.
Als der Fahrer vorfuhr, stand Opa schon auf der Treppe.
Er sah zu, wie ich die Tüte nahm, als wäre ich gerade mit einer goldenen Krone aus dem Taxi gestiegen.
Am Küchentisch schöpfte er sich später eine Schüssel von dem, was er „Alles-Rein-Auflauf“ nennt: zwei übrig gebliebene Würstchen, ein Rest Bohnen, eine halbe Zwiebel. Das Ganze im Ofen einmal warm gemacht.
Es sah ehrlich gesagt traurig aus. Vermutlich kostete es keine zwei Euro.
„Muss schön sein“, murmelte er, „Freitag wie ein König zu essen.“
„Es ist nur ein Burger!“, platzte es aus mir. „Alles wird teurer! Mieten, Strom, Lebensmittel! Ich halte mich so gerade über Wasser. Ihr hattet’s leichter. Ein Gehalt, ein Haus. Fertig.“
Opa legte den Löffel ab. Zum ersten Mal sah er wirklich wütend aus.
„Leichter?“ Seine Stimme war ruhig, aber gefährlich.
„Mit 18 stand ich in der Werkhalle. Zwölf Stunden Schichten, sechs Tage die Woche. Als die Zinsen in den Achtzigern bei über zehn Prozent lagen, hab ich trotzdem abbezahlt. Pausenbrot? Wurstbrot. Jeden Tag. Kein Artisan, kein fancy Irgendwas.“
Er zeigte auf mein Handy. „Dein Telefon kostet mehr als mein erster Gebrauchtwagen. Meins macht Anrufe.“
Er deutete auf ein altes Klappgerät in der Ladestation.
„Und deine Tattoos? Hübsch. Meins hab ich beim Bund bekommen. Hat Albträume inklusive, aber keinen Ratenplan.“
Mir stieg die Röte ins Gesicht.
„Soll ich also unglücklich sein, nur um zu sparen?“
„Du bist nicht unglücklich“, fuhr er mir dazwischen.
„Du bist verwöhnt. Ihr wollt den Lohn, ohne die Geduld. Ihr wollt Freiheit, aber gebt jeden Monat Geld aus, nur um so zu leben, als wärt ihr schon frei.“
Er ging zum alten Rollschreibtisch im Flur, zog eine Schublade auf und legte mir ein kleines, abgewetztes Sparbuch hin.
„Guck“, sagte er.
Ich schlug es auf.
Zahlen, die nicht laut schreien, sondern flüstern: Jahrzehnte Geduld. Über 200.000 Euro.
Keine großen Sprünge. Kein Lotto. Nur Gehalt, Rente, ein bisschen Betriebsrente und sehr viel Stille.
Ich starrte auf die Zahl.
Dann auf meinen Lieferbeleg.
Dann auf meinen Kontostand, der sich nach jedem Monatsende wie ein kalter Luftzug anfühlt.
Opa hob seinen Teller mit dem traurigen Auflauf.
„Du hast recht“, sagte er leise. „Ich habe dieses Haus mit einem Gehalt bezahlt. Aber ich hatte auch keine fünfzig Abos, kein Leasing, keine täglichen Belohnungen für überstandene Tage.“
Er blieb in der Tür stehen und sah mich lange an.
„Du hast kein Einkommensproblem“, sagte er.
„Du hast ein Gewohnheitsproblem.“
Am nächsten Morgen roch die Küche nach Filterkaffee und Linoleum.
Opa saß schon da, Zeitung gefaltet, Brille auf der Nasenspitze.
Ich setzte mich ihm gegenüber.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte ich. „Nicht die Zahl. Das Aushalten.“
Er sah auf seine Tasse.
„Ich hab mir erlaubt, weniger zu brauchen, damit ich mir später mehr erlauben konnte.“
„Und wenn später nie kommt?“, fragte ich.
„Dann hatte ich bis dahin Ruhe“, sagte er und lächelte müde. „Ruhe ist auch ein Luxus.“
Wir schwiegen. Der Kühlschrank sprang an.
Irgendwo in der Nachbarschaft bellte ein Hund, als wollte er bekräftigen, dass die Welt noch in Ordnung sei.
„Weißt du“, sagte Opa schließlich,
„früher hatten wir weniger. Aber wir haben es mehr geschätzt.“
Ich nickte. Nicht aus Höflichkeit. Aus Verstehen.
In der nächsten Woche kochte ich dreimal.
Nichts Besonderes. Nudeln, Ofengemüse, Suppe.
Ich kündigte zwei Abos.
Ich setzte einen Dauerauftrag über 150 Euro. Klein, peinlich klein – aber echt.
Am Freitagabend blieb ich vor einer Leuchtreklame stehen.
Burger. Frittiertes Glück. Ich roch Salz, Fett, das Versprechen, dass es mir zusteht.
Ich schrieb eine Nachricht an einen Freund:
„Heute nicht. Komm morgen zu uns, ich koche.“
Zuhause deckte ich den Tisch im Kellerzimmer.
Opa kam die Treppe herunter, langsam, vorsichtig, mit diesem Gang, den nur Knie kennen, die viel getragen haben.
„Was gibt’s?“, fragte er.
„Suppe. Und Brot. Selbst geschnitten.“
Er setzte sich. Wir aßen. Keine Krone, kein Spektakel.
Nur Wärme in Schüsseln und ein ruhiger Kontostand im Kopf.
„Du“, sagte ich irgendwann, „dein Satz neulich … hat mich getroffen.“
Opa sah mich fragend an.
Ich atmete tief durch.
„Nicht das Einkommen macht uns arm – der Lebensstil tut’s.“
Er nickte.
„Und ein volles Konto riecht nach Filterkaffee.“
Wir lachten leise.
Draußen wurde es dunkel. Drinnen wurde es leicht
Teil 2 – Eine Woche später, als das Warmwasser ausfiel und der Keller nach kaltem Metall roch, musste sich zeigen, ob Opas Satz nur gut klang oder ob er mein Leben wirklich verändert hatte.






