Statt zu weinen, saß meine Mutter am Küchentisch und strich mit einem roten Stift ihre restliche Lebenszeit durch.
Es war der erste Dezembertag in unserem kleinen Dorf im Schwarzwald. Draußen lag dieser typische, schmutzige Schneematsch, der den Winter eher grau als weiß erscheinen ließ. Aber die Kälte im Haus war schlimmer als die draußen.
Seit Papa vor drei Wochen beerdigt wurde – nach 47 Jahren, zwei Monaten und vier Tagen Ehe – war unser Haus kein Zuhause mehr. Es war ein Museum der Stille.
Ich kam wie jeden Morgen vorbei, um nach ihr zu sehen. Mama, Helga, war immer der Fels in der Brandung gewesen. Eine deutsche Frau vom alten Schlag: ordentlich, pragmatisch, keine großen Gefühle in der Öffentlichkeit. Aber heute Morgen fand ich sie in der Küche. Kein Kaffee-Duft. Kein Radio.
Sie hatte den großen Wandkalender vor sich. Mit einem dicken roten Filzstift strich sie nicht die vergangenen Tage durch, sondern die kommenden.
„Mama, was machst du da?“, fragte ich vorsichtig.
Sie sah nicht auf. „Ich plane den Auszug, Lukas. Das Haus kommt weg. Es ist zu groß für ein halbes Leben.“
Ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch. Papa, der Dorfschreiner, hatte dieses Haus mit seinen eigenen Händen gebaut. Jeder Balken, jede Diele atmete seinen Geist. Und sie wollte es verkaufen? Sofort?
„Du kannst nicht einfach alles wegwerfen“, protestierte ich.
„Es ist nur Holz und Stein“, sagte sie kalt. Aber ihre Hände zitterten, als sie die Kaffeetasse abstellte. „Ordnung muss sein. Wenn das Leben unordentlich wird, muss man aufräumen.“
In den nächsten Tagen begann sie, Papas Spuren zu tilgen. Es war brutal anzusehen. Seine Kleidung spendete sie dem Roten Kreuz. Seine Bücher kamen in die Altpapiertonne. Sie arbeitete mit einer wütenden Energie, als wollte sie den Schmerz durch körperliche Erschöpfung besiegen.
Doch dann bemerkte ich etwas Seltsames.
Jeden Abend, wenn ich vorgab, nach Hause zu fahren, aber stattdessen mein Auto um die Ecke parkte und das Haus beobachtete, sah ich Licht im Kellerfenster.
Ein schwaches, warmes Licht. Der Keller war Papas Reich gewesen. Seine Werkstatt. Es roch dort unten immer nach Sägespänen, Leim und billigem Tabak. Warum ging Mama dort hinunter? Sie hasste den Staub.
Am vierten Abend hielt ich es nicht mehr aus. Ich schlich mich durch die Hintertür hinein. Das Haus war dunkel, nur der Spalt unter der Kellertür leuchtete. Ich hörte keine Geräusche. Kein Weinen, kein Schluchzen. Nur ein leises, rhythmisches Kratzen.
Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit. Mama saß auf Papas alter Werkbank. Sie trug seinen grauen Wollpullover, der ihr viel zu groß war. Vor ihr stand ein großer Schrank aus Eichenholz, den Papa immer verschlossen gehalten hatte. Er stand jetzt sperrangelweit offen.
Ich hielt den Atem an. Im Schrank befanden sich Dutzende kleiner Holzkästchen. Wunderschön gearbeitet, jedes aus einer anderen Holzart. Kirsche, Walnuss, Ahorn. Auf jedem Kästchen war eine Jahreszahl eingebrannt. 1976. 1977. 1978… bis 2022.
Mama hielt ein unfertiges Kästchen in der Hand. Das Holz war rau, ungehobelt, splittert. Es trug keine Jahreszahl, aber ich wusste, es war für dieses Jahr bestimmt. Das Jahr 47. Oder das beginnende Jahr 48.
„Lukas?“, ihre Stimme war brüchig. Sie hatte mich bemerkt, drehte sich aber nicht um.
„Was ist das, Mama?“, fragte ich und trat in den Lichtkreis der Werkstattlampe.
Sie strich sanft über das raue Holz des unfertigen Kastens. „Dein Vater… er war kein Mann vieler Worte. Du weißt das. Er hat nie Liebesbriefe geschrieben. Aber jedes Jahr, an unserem Hochzeitstag, hat er einen Kasten gebaut. Und darin hat er eine Erinnerung aufbewahrt. Nur eine.“
Sie öffnete das Kästchen von 1976. Darin lag ein getrocknetes Gänseblümchen und ein Kinoticket. Sie öffnete 1985. Ein Milchzahn von mir. Sie öffnete 2010. Ein Stück Rinde von dem Baum, unter dem sie gepicknickt hatten, als sie in Rente gingen.
„Er hat unser Leben archiviert, Lukas“, flüsterte sie, und jetzt liefen ihr doch die Tränen über die Wangen. „47 Jahre. Alles hier drin.“ Dann hob sie das unfertige Kästchen hoch. Es sah hässlich aus neben den anderen polierten Meisterwerken.
„Das hier… das hat er am Tag vor seinem Herzinfarkt angefangen. Es ist nicht fertig. Es ist rau. Es verletzt mich, wenn ich es anfasse.“ Sie zeigte mir ihren Daumen, in dem ein kleiner Holzsplitter steckte.
„Deshalb muss das Haus weg“, schluchzte sie plötzlich, und die Fassade der starken deutschen Frau brach endgültig zusammen. „Ich kann hier nicht leben, wenn das 48. Jahr unvollendet bleibt. Es ist wie eine offene Wunde, die nicht heilt. Er hat mich mit der Arbeit allein gelassen.“
Ich verstand plötzlich alles. Ihr Aktionismus, das Aufräumen, der Verkaufswunsch – es war die Panik vor diesem unfertigen Ende. Sie ertrug die Unvollkommenheit nicht.
Ich sah mich in der Werkstatt um. Überall lagen Werkzeuge. Hobel, Stecheisen, Schleifpapier. Ich wusste nicht viel vom Tischlern, ich war Buchhalter geworden. Aber ich wusste, was Papa getan hätte.
Ich ging nicht zu ihr, um sie zu umarmen. Das hätte sie jetzt nur noch mehr gebrochen. Stattdessen ging ich zum Regal und nahm einen Bogen feines Schleifpapier. Ich trat an die Werkbank, nahm ihr das raue, unfertige Kästchen sanft aus der Hand und legte das Schleifpapier vor sie hin.
„Er hat dich nicht allein gelassen, Mama“, sagte ich leise. „Er hat dir nur den letzten Schritt überlassen.“
Sie starrte das Papier an. „Du musst es nicht wegwerfen“, sagte ich. „Du musst es nur glattschleifen. Bis es nicht mehr wehtut, wenn man es anfasst.“
Es war still im Keller. Nur das Brummen der alten Heizung war zu hören. Minuten vergingen. Dann, ganz langsam, nahm Mama das Schleifpapier. Ihre Hand zitterte nicht mehr. Sie setzte das Papier auf das raue Holz an. Ratsch. Ratsch. Ratsch.
Das Geräusch war rau, aber rhythmisch. Mit jedem Zug wurde ihr Gesichtszug weicher. Der Staub flog auf, tanzte im Licht der Lampe und legte sich wie Puderzucker auf ihre schwarzen Kleider. Sie schliff die Kanten. Sie glättete die Splitter. Sie arbeitete mit einer Konzentration, die ich nur von Papa kannte.
Ich blieb die ganze Nacht bei ihr. Wir sprachen nicht. Wir arbeiteten. Ich hielt das Holz, sie schliff. Später zeigte ich ihr, wie man das Öl aufträgt, damit die Maserung leuchtet.
Als die Morgensonne durch das kleine Kellerfenster fiel, stand das 48. Kästchen auf der Werkbank. Es war nicht so perfekt wie Papas Arbeiten. Es hatte kleine Macken. Aber es war glatt, warm und leuchtete in einem tiefen Honiggelb. Es war fertig.
Mama blies den Holzstaub von ihren Händen. Sie sah müde aus, aber zum ersten Mal seit drei Wochen waren ihre Augen klar. „Wir müssen den Makler anrufen“, sagte sie und wischte sich die Stirn. Mein Herz sank. „Du willst immer noch verkaufen?“
Sie sah mich an und schüttelte den Kopf. Ein ganz feines Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Nein. Ich muss ihm absagen. Ich kann hier nicht weg.“ Sie klopfte sanft auf die Werkbank. „Ich muss doch üben. Nächstes Jahr brauche ich einen Kasten für das Jahr 49. Und ich habe keine Ahnung, wie man Zinken fräst.“
Ich drückte ihre Hand. Sie war rau vom Staub, aber warm.
Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Das stimmt nicht. Die Zeit ist nur das Holz, aus dem wir geschnitzt sind. Aber wir selbst sind das Schleifpapier, das den Schmerz glättet, bis er zu einer Erinnerung wird, die wir anfassen können, ohne zu bluten.
Mama wohnt immer noch in dem Haus. Und wenn man heute im Dezember an ihrem Kellerfenster vorbeigeht, hört man kein Weinen. Man hört das Hämmern und Schleifen. Das Geräusch von jemandem, der sein Leben weiterbaut.
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