Das 48. Kästchen stand auf der Werkbank. Und plötzlich wollte das Haus nicht mehr verkauft werden, sondern verstanden.
Am Morgen nach der Nacht in der Werkstatt roch Mamas Küche wieder nach Kaffee. Es war derselbe Filterkaffee wie immer, aber diesmal fühlte sich der Duft nicht wie Verrat an, sondern wie ein vorsichtiges Wiederanfangen.
Sie stellte zwei Tassen hin, ohne zu fragen, ob ich bleibe. Ihre Augen waren gerötet, doch sie wirkte nicht mehr wie eine Frau, die sich selbst wegorganisieren muss.
„Der Makler“, sagte sie, als wäre es ein schmutziges Wort, „kommt nicht.“
Ich nickte und wartete, ob noch etwas kommt. Mama rührte Zucker in den Kaffee, obwohl sie sonst nie Zucker nahm, und die Löffelspitze klirrte an der Tasse wie ein kleines, nervöses Glöckchen.
„Ich hab ihm gestern Nacht geschrieben“, sagte sie. „Kurz. Sachlich. Keine Erklärung.“
„Typisch Helga“, murmelte ich, und es war das erste Mal seit Papas Beerdigung, dass wir beide gleichzeitig ein winziges, echtes Lächeln hatten.
Draußen schob sich der Vormittag über den Hof. Der Schneematsch war über Nacht gefroren und glänzte wie eine dünne Schicht Glas, auf der man nur vorsichtig gehen durfte, wenn man nicht ausrutschen wollte.
Mama zog Papas grauen Wollpullover wieder an, obwohl er immer noch viel zu groß war. Die Ärmel hingen über ihre Hände, als müsste sie sich darin verstecken, und trotzdem sah sie darin stabiler aus als in ihren schwarzen Trauerkleidern.
„Kommst du heute Abend wieder runter?“, fragte ich.
Sie setzte die Tasse ab und antwortete nicht sofort. Dann nickte sie einmal, kurz und bestimmt, als hätte sie gerade eine Entscheidung unterschrieben.
„Ja. Ich muss… üben.“
Am Nachmittag ging ich zur Arbeit, aber Zahlen und Konten waren plötzlich wie aus einem anderen Leben. Ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder an Papas Werkbank dachte, an das Geräusch des Schleifpapiers, an den Staub, der im Licht tanzte.
Als ich abends wiederkam, brannte im Kellerfenster schon das warme Licht. Nicht mehr heimlich, nicht mehr wie ein verbotenes Ritual, sondern wie eine Lampe, die man anmacht, wenn man zu Hause ist.
Mama stand unten nicht am Regal, sondern mitten im Raum, vor der Werkbank. Die Werkstatt war aufgeräumter als sonst, aber nicht steril, eher so, als hätte jemand beschlossen, dass hier wieder gearbeitet werden darf.
„Du bist pünktlich“, sagte sie.
„Ich hab’s gelernt“, antwortete ich und legte meine Jacke auf den Stuhl. „Bei dir gibt’s keine Gleitzeit.“
Sie schnaufte leise, fast wie ein Lachen, und zeigte auf ein Stück Holz, das auf der Bank lag. Es war Eiche, schwer und ehrlich, und daneben lagen Bleistift, Winkel und ein Zettel, auf dem Papa früher seine Maße notiert hatte.
Mama hielt den Zettel hoch, als wäre er ein Beweisstück. „Das ist seine Handschrift“, sagte sie leise. „Ich will das nicht verlieren.“
„Dann benutzen wir es“, sagte ich. „Nicht einrahmen. Benutzen.“
Das Wort „wir“ blieb einen Moment zwischen uns stehen. Es fühlte sich an wie ein neuer Balken, den man ins Haus einzieht, und man weiß noch nicht, ob er trägt.
Mama schob mir das Holz hin. „Ich will einen Boden. Für ein neues Kästchen.“
„Für Jahr 49?“, fragte ich.
Sie schluckte. „Für nächstes Jahr, ja. Damit ich… nicht wieder vor einer offenen Wunde stehe.“
Wir arbeiteten langsam. Ich hielt das Holz, sie zeichnete Linien, und jedes Mal, wenn der Bleistift über die Maserung kratzte, sah ich, wie ihre Stirn sich entspannte, als würde das Holz etwas von ihr verlangen, das nicht wehtut.
Einmal griff sie zum Hobel und hielt ihn wie eine fremde Waffe. Ihre Hand blieb in der Luft hängen.
„Ich hab Angst, es falsch zu machen“, flüsterte sie.
„Papa hat auch falsch gemacht“, sagte ich. „Er hat’s nur wieder gut gemacht.“
Sie schaute mich an, skeptisch, als wäre das eine zu weiche Aussage. Dann ging sie zum Regal, holte ein altes Kästchen heraus – 1992 – und stellte es vor mich hin.
„Siehst du das hier?“ Ihre Finger strichen über eine Ecke. „Da ist ein winziger Riss. Ich hab ihn immer gesehen. Dein Vater hat so getan, als wäre er nicht da.“
Ich beugte mich vor. Der Riss war kaum sichtbar, aber plötzlich war er für mich wie eine Botschaft: Perfekt war nie das Ziel gewesen. Nur bleibend.
„Vielleicht hat er ihn extra gelassen“, sagte ich.
Mama schnaubte. „Er? Extra?“
Doch ihre Mundwinkel zuckten, und sie setzte den Hobel an. Der erste Zug war zögerlich. Beim zweiten wurde er mutiger. Beim dritten hörte ich es: dieses tiefe, satte Geräusch, wenn Holz sich in dünnen Locken löst.
„Das klingt…“, sagte sie überrascht.
„Wie damals“, ergänzte ich.
Sie hob den Kopf, und in ihren Augen lag nicht nur Trauer, sondern auch etwas wie Stolz, den sie sich nie erlaubt hatte. Als wären ihre Hände nicht nur Hände einer Witwe, sondern wieder Hände eines Menschen, der etwas kann.
In den nächsten Tagen wurde der Keller unser Dezemberraum. Oben im Haus blieb es kühl und still, aber unten war Wärme, nicht nur von der Heizung, sondern von dem, was man tut, wenn man nicht weiß, wohin mit dem Schmerz.
Mama fing an, die Kästchen nicht mehr nur anzusehen, sondern zu öffnen. Es war, als würde sie den Mut trainieren, Erinnerungen anzufassen, ohne sofort zu bluten.
„1979“, sagte sie eines Abends und stellte das Kästchen vor uns. „Da warst du noch nicht da.“
Sie klappte es auf. Darin lag ein kleiner, verblichener Stofffetzen, kariert, und eine winzige Holzspäne, die so aussah, als hätte sie Papa absichtlich hineingelegt.
„Das ist vom Tisch in der Küche“, sagte sie. „Der alte, den wir damals hatten. Dein Vater hat ihn gebaut, bevor wir heirateten.“
„Warum der Stoff?“, fragte ich.
Mama nahm den Fetzen, hielt ihn an die Nase, als würde er noch nach etwas riechen. „Von meiner Schürze. Ich hab sie beim Schleifen zerrissen. Er hat nichts gesagt. Er hat nur genäht. Mit diesen dicken Fingern.“
Sie lachte kurz auf, erschrocken über das eigene Lachen, und gleich danach kamen ihr Tränen. Es war kein großes Schluchzen, eher ein leises Überlaufen, wie wenn ein Glas zu voll wird.
Ich sagte nichts. Ich blieb da. Manchmal ist das das Einzige, was man richtig machen kann.
Am dritten Advent kam die Nachbarin, Frau Bärbel, und brachte Plätzchen. Sie blieb an der Küchentür stehen, als hätte sie Angst, in ein falsches Kapitel zu treten.
„Helga“, sagte sie vorsichtig, „wenn du was brauchst…“
Mama nahm die Dose, nickte und antwortete freundlich, aber kurz. Als Frau Bärbel weg war, blieb Mama lange am Fenster stehen.
„Die reden“, sagte sie.
„Die reden immer“, antwortete ich.
„Sie denken, ich verkaufe das Haus, weil ich verrückt werde“, sagte Mama und drehte sich um. „Vielleicht war ich das auch.“
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