„Du warst verletzt“, sagte ich. „Und du wolltest, dass es aufhört.“
Sie presste die Lippen zusammen, als würde sie sich nicht erlauben, dass dieses Wort stimmt. Dann ging sie ohne weitere Erklärung runter in den Keller und machte das Licht an.
Dort nahm sie das 48. Kästchen, das wir fertiggestellt hatten. Es stand auf der Werkbank wie ein neues Tier, das noch nicht weiß, ob es hier bleiben darf. Mama strich über den Deckel, vorsichtig, als würde sie prüfen, ob es wirklich nicht mehr splittert.
„Was kommt rein?“, fragte ich.
Sie sah mich an. „Das weiß ich nicht. Dein Vater hat immer eine Erinnerung genommen, die schon passiert war.“
„Das Jahr ist nicht vorbei“, sagte ich.
„Und doch ist es schon voll“, flüsterte sie. „Mit seinem Ende.“
Sie öffnete eine Schublade, die ich vorher nicht beachtet hatte. Darin lag Papas altes Taschenmesser, stumpf und benutzt, und ein kleines Stück Holz, das wie ein Rest aussah.
Mama nahm das Stück Holz. Es war Kirsche, glatt, und darauf war eine winzige Kerbe, fast wie ein Zeichen.
„Das hat er mir gegeben“, sagte sie. „Am Morgen seines Herzinfarkts. Er hat’s mir einfach in die Hand gedrückt und gesagt: ‚Für später.‘ Mehr nicht.“
„Und du hast es aufgehoben“, sagte ich.
„Natürlich“, antwortete sie, als wäre das eine beleidigende Frage. „Ordnung muss sein.“
Sie legte das Kirschholz in das 48. Kästchen. Dann hielt sie inne. Etwas fehlte, das spürte ich, obwohl ich nicht wusste, was.
Mama ging zum Regal, nahm das Kästchen von 2022 und stellte es hin. Ihre Finger zitterten wieder leicht, als würde dieses Jahr schwerer sein als die anderen.
„Das war das letzte fertige“, sagte sie.
Sie öffnete es. Darin lag ein Schlüssel. Ein kleiner, alter Schlüssel, der aussah, als hätte er nie zu einer Haustür gehört.
Ich runzelte die Stirn. „Wozu ist der?“
Mama nahm ihn, drehte ihn im Licht. „Ich weiß es nicht. Dein Vater hat ihn nie erklärt.“
Wir standen beide da, und plötzlich war da wieder dieses Gefühl: Es gibt Dinge in einem Leben, die bleiben verschlossen, selbst wenn der Mensch weg ist. Und das tut weh, weil man denkt, man hätte ein Recht auf alle Türen.
Mama ging durch die Werkstatt, hielt den Schlüssel an verschiedene Schlösser, an Schubladen, an den großen Eichenschrank. Nichts passte. Dann blieb sie vor einer alten Truhe stehen, die ich früher als Kind immer spannend gefunden hatte, weil Papa sie nie öffnete.
„Die“, sagte ich leise.
Mama kniete sich hin, und diesmal war ihre Bewegung nicht hektisch, sondern konzentriert. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss. Es klemmte. Sie drückte. Dann drehte sie, langsam, als hätte sie Angst, dass sich dahinter etwas befindet, das sie nicht erträgt.
Klick.
Der Deckel hob sich ein Stück, und ein Schwall kalter Luft kam heraus, als wäre darin ein kleiner Winter konserviert. Mama öffnete die Truhe ganz. Obenauf lagen alte Holzstücke, Skizzen, Rechnungen, Papierkram.
Und darunter: ein Bündel Briefe. Umschläge, ordentlich beschriftet, mit Jahreszahlen. Nicht 1976 bis 2022 wie die Kästchen, sondern nur wenige: 2023, 2024, 2025.
Mamas Atem stockte. „Das…“, flüsterte sie.
Ich nahm einen Umschlag. Auf dem ersten stand: Helga – wenn ich nicht mehr da bin. Die Schrift war Papas, kantig und klar, als hätte er seine Gefühle in gerade Linien gezwungen.
Mama griff danach, als würde sie ihn mir aus der Hand nehmen wollen, hielt aber inne. Sie warf mir einen Blick zu, der gleichzeitig Bitte und Befehl war.
„Lies“, sagte sie.
Ich schluckte. „Willst du das wirklich?“
„Ja“, antwortete sie. „Sonst frisst es mich wieder auf.“
Ich öffnete den Umschlag vorsichtig, als könnte man Papier verletzen. Drinnen war ein Blatt, nur halb beschrieben. Als hätte Papa angefangen und dann… aufgehört.
Ich las leise vor. Nicht jedes Wort, aber genug, damit es im Raum war.
Er schrieb, dass er nie gut war im Reden.
Dass die Kästchen sein Weg waren, „ich liebe dich“ zu sagen, ohne es sagen zu müssen.
Und dass das 48. Jahr wahrscheinlich nicht fertig wird, wenn „das Herz wieder spinnt“, wie er es nannte.
Mama hielt die Hand vor den Mund. Ihre Schultern bebten, aber sie blieb sitzen. Sie rannte nicht weg. Das war neu.
Ich las weiter.
Er schrieb, dass Unvollkommenheit kein Verrat ist.
Dass ein unfertiger Kasten nicht bedeutet, dass die Liebe unfertig war.
Und dass Helga bitte nicht das Haus verkauft, nur weil etwas weh tut.
Mamas Augen schlossen sich. Ein Geräusch kam aus ihr, kein Schluchzen, eher ein leiser Ton, als würde etwas in ihr nachgeben, das zu lange gespannt war.
„Der sture Kerl“, flüsterte sie. „Er wusste es.“
Ich wollte den Brief ablegen, aber sie griff danach. Nicht hektisch, nicht wütend, sondern fest. Ihre Finger umklammerten das Papier, als wäre es warm.
„Gib her“, sagte sie.
Dann las sie selbst, langsam, Wort für Wort. Ihre Lippen bewegten sich lautlos. Manchmal blieb sie stehen, als müsste sie Luft holen, und ging dann weiter.
Als sie fertig war, legte sie den Brief nicht zurück in den Umschlag. Sie faltete ihn sorgfältig, als würde sie ihn in eine Schublade ihres Körpers legen.
„Und die anderen?“, fragte ich.
Mama sah in die Truhe, als hätte sie Angst vor dem, was noch kommt. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Nicht heute“, sagte sie. „Heute reicht.“
Sie stand auf, ging zur Werkbank, nahm das 48. Kästchen und öffnete es. Sie legte den Brief nicht hinein. Stattdessen nahm sie ein kleines Stück Schleifpapier, das vom Vorabend übrig geblieben war, und schnitt ein winziges Rechteck ab.
„Was machst du da?“, fragte ich.
„Das“, sagte sie und legte das Stück Schleifpapier neben das Kirschholz in das Kästchen, „ist die Erinnerung dieses Jahres.“
Ich starrte sie an. „Schleifpapier?“
Mama nickte. „Weil ich gelernt habe, dass man nicht alles wegwerfen muss, nur weil es weh tut. Man kann es… bearbeiten.“
Sie schloss den Deckel. Ihre Hand blieb einen Moment darauf liegen, schwer und ruhig.






