Jeden Morgen um Acht: Wie Anka zwei Leben über die Hecke rettete

Jeden Morgen um acht verlässt mich meine Hündin für die Frau, deren Namen ich zwei Jahre lang nicht kannte.

Ich habe immer geglaubt, ich kenne meine Hündin in- und auswendig. Anka, eine siebenjährige Golden-Retriever-Mischlingsdame, ist mein Schatten, mein Seelentröster, mein Home-Office-Kollege.

Wir leben in einer dieser typischen deutschen Kleinstädte, wo die Vorgärten manikürt sind und die Thuja-Hecken exakt auf 1,80 Meter geschnitten werden, damit niemand hinein-, aber auch niemand herausschauen kann.

„Privatsphäre ist das höchste Gut“, hatte mir mein Vater beigebracht. Und daran habe ich mich gehalten.

Seit zwei Jahren wohne ich nun hier. Rechts wohnt eine Familie mit zwei lauten Teenagern, links wohnt… nun ja, eine alte Dame. Ich wusste, dass sie da war, weil ihre Mülltonne immer pünktlich am Abend vor der Abholung draußen stand.

Wir hatten uns vielleicht dreimal gesehen. Ein kurzes Nicken, ein gemurmeltes „Morgen“, dann verschwand sie hinter ihrer schweren Eichentür. Ich wusste nicht einmal ihren Namen.

Doch Anka wusste ihn.

Es fing vor etwa zwei Monaten an. Jeden Morgen, pünktlich um 8:00 Uhr, wenn ich mir meinen zweiten Kaffee machte, wurde Anka unruhig. Sie lief zur Terrassentür, fiepte leise und kratzte am Glas.

Sobald ich sie rausließ, rannte sie nicht etwa zum Schnüffeln an den nächsten Baum. Nein, sie lief zielstrebig zur hintersten Ecke unseres Gartens, dort, wo die Hecke zum Nachbargrundstück eine kleine, lichte Lücke hatte.

Anfangs dachte ich, dort säße eine Katze oder ein Igel. Aber Anka bellte nicht. Sie wedelte. Sie setzte sich hin, legte den Kopf schief und hörte zu.

Eines Dienstags trieb mich die Neugier nach draußen. Ich schlich mich in meinen Pantoffeln über den taunassen Rasen, die Kaffeetasse in der Hand, und versteckte mich hinter dem großen Kirschbaum.

Was ich sah und hörte, versetzte mir einen Stich direkt ins Herz.

Auf der anderen Seite der Hecke, auf einem verwitterten Gartenstuhl, saß meine Nachbarin. Sie trug eine dicke Strickjacke, obwohl es Sommer war, und ihre Hände, gezeichnet von Arthritis, umklammerten eine Tasse.

„…und weißt du, Anka“, hörte ich ihre brüchige, aber warme Stimme. „Früher hat mein Heinz die Rosen immer im Herbst geschnitten. Jetzt wuchern sie mir über den Kopf. Aber solange du mir zuhörst, ist es nur halb so schlimm.“

Anka drückte ihre feuchte Nase durch die Zweige. Die alte Dame streichelte sie zärtlich.

„Du bist ein feines Mädchen“, flüsterte sie. „Mein einziger Besuch am Tag.“

Ich stand hinter dem Baum und schämte mich. Ich schämte mich für meine „deutsche Distanz“. Ich hatte zwei Jahre lang neben einem Menschen gelebt, der so einsam war, dass er sich mit meinem Hund verabredete, um überhaupt eine Stimme zu hören. Ich erfuhr durch das Belauschen dieser Gespräche mehr über sie als in zwei Jahren Nachbarschaft.

Sie hieß Elfriede. Sie war 89. Sie aß morgens am liebsten Butterbrezeln, konnte aber nicht mehr gut zum Bäcker laufen.

Das ging Wochen so. 8:00 Uhr war ihre Zeit. Ein heiliges Ritual zwischen einer alten Seele und einem Hund. Ich störte sie nicht. Ich hatte das Gefühl, ich hätte kein Recht dazu, diesen Frieden zu brechen.

Bis zu jenem grauen Novembermorgen.

Es war kalt, Nieselregen lag in der Luft. Anka stand um 8:00 Uhr an der Tür. Ich ließ sie raus. Ich ging in die Küche, wartete auf das Geräusch der Kaffeemaschine.

Doch statt der üblichen Stille hörte ich Anka bellen. Nicht das freudige Bellen, wenn wir Ball spielten. Es war ein dunkles, drängendes, panisches Bellen. Dann ein Jaulen, das mir durch Mark und Bein ging.

Ich rannte raus. Anka stand an der Hecke, grub mit den Pfoten in der Erde, sprang an dem Maschendraht hoch und schaute immer wieder zu mir zurück. Ihre Augen waren weit aufgerissen.

„Elfriede?“, rief ich über die Hecke.

Stille. Nur der Wind in den Bäumen.

„Frau Elfriede?“

Keine Antwort. Kein Klappern von Geschirr. Kein leises Murmeln.

Ein typisch deutscher Gedanke schoss mir durch den Kopf: Du kannst nicht einfach rübergehen. Das ist Hausfriedensbruch. Was, wenn sie nur schläft?

Aber Anka hörte nicht auf. Sie biss in den Maschendraht und zerrte daran, als wollte sie die Barriere zwischen uns und der Nachbarin mit bloßen Zähnen einreißen. Ich vertraute meinem Hund.

Ich rannte zur Straße, rüber zu ihrem Gartentor. Verschlossen. Ich drückte die Klingel. Einmal, zweimal, Sturm. Nichts.

Mein Herz hämmerte. Ich rannte ums Haus herum zur Terrassentür. Durch die Scheibe sah ich in ihr Wohnzimmer. Alles war ordentlich, altmodisch, sauber. Aber auf dem Flur, halb verdeckt durch den Türrahmen zur Küche, lag etwas. Ein Hausschuh.

Ohne nachzudenken, griff ich mir einen großen Stein aus dem Beet und schlug die kleine Glasscheibe neben dem Griff ein. Ich griff hindurch, drehte den Hebel um.

Elfriede lag auf den kalten Fliesen in der Küche. Sie war bei Bewusstsein, aber ihr Gesicht war aschfahl. Sie zitterte am ganzen Körper. Neben ihr lag die zerbrochene Tasse, die sie wohl für ihr 8-Uhr-Date vorbereitet hatte.

„Gott sei Dank“, flüsterte sie, als ich mich über sie beugte. „Ich… ich bin gestern Abend gefallen. Ich kam nicht mehr hoch. Das Telefon… zu weit weg.“

Sie hatte die ganze Nacht dort gelegen. In der Kälte.

Während ich auf den Notarzt wartete und sie in meine Jacke wickelte, schaute sie nicht mich an. Ihr Blick ging zur offenen Terrassentür, wo Anka jetzt stand, zögernd, aber mit wedelndem Schwanz.

„Sie hat gewartet, oder?“, fragte Elfriede leise. Tränen liefen in ihre Ohren. „Ich hatte solche Angst, dass sie denkt, ich hätte sie vergessen.“

Ich musste schlucken, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden. „Sie wusste, dass etwas nicht stimmt, Elfriede. Sie hat Alarm geschlagen.“

Im Krankenhaus stellte sich heraus, dass sie sich die Hüfte gebrochen hatte. Nichts Ungewöhnliches in dem Alter, aber die Unterkühlung hätte sie töten können, wenn sie noch ein paar Stunden länger dort gelegen hätte.

Elfriede verbrachte drei Wochen in der Reha. In dieser Zeit war Anka unerträglich. Sie saß um 8:00 Uhr an der Hecke und wartete. Also tat ich das Einzige, was richtig war. Ich ging raus, setzte mich auf den nassen Rasen neben meinen Hund und erzählte Anka (und dem leeren Gartenstuhl drüben), was es Neues gab.

Als Elfriede letzte Woche nach Hause kam, gab es keine Hecke mehr zwischen uns. Zumindest nicht im übertragenen Sinne.

Ich habe das Loch im Zaun vergrößert. Jetzt passt ein Rollator hindurch.

Jeden Morgen um acht sitzen wir nun zu dritt auf ihrer Terrasse. Elfriede, Anka und ich. Ich trinke meinen Kaffee, Elfriede isst die Brezel, die ich ihr vom Bäcker mitbringe, und Anka liegt zufrieden zwischen uns, den Kopf auf Elfriedes Hausschuhen.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir stolz darauf sind, niemanden zu brauchen. Wir bauen Zäune, ziehen Mauern hoch und nennen es Unabhängigkeit. Aber manchmal braucht es einen Hund mit einem großen Herzen, um uns zu zeigen, dass Unabhängigkeit im Alter verdammt einsam macht.

Elfriede sagte zu mir: „Weißt du, Junge, ich hatte Angst vor dem Sterben. Nicht wegen des Todes, sondern weil ich dachte, niemand würde es merken.“ Sie kraulte Anka hinter den Ohren. „Jetzt habe ich keine Angst mehr.“

Anka hat nicht nur Elfriedes Leben gerettet. Sie hat mich gelehrt, dass Nachbarschaft mehr ist, als nur die Mülltonnen zur gleichen Zeit rauszustellen. Es geht darum, aufeinander achtzugeben.

Schaut heute mal über eure Hecke. Vielleicht wartet dort jemand, der einfach nur „Guten Morgen“ hören möchte.

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