Elfriede atmete aus, langsam, als hätte sie Luft festgehalten, seit Heinz gestorben war. Ich verstand plötzlich: Dieses Acht-Uhr-Ritual war nicht nur Trost gewesen, es war ein Pflaster auf einer Wunde, die keiner sehen wollte.
In den nächsten Tagen wurde aus „Karin ist da“ nicht sofort „alles gut“. Es wurde erst mal unbequem, weil Nähe immer auch Wahrheit bedeutet. Karin brachte Formulare mit, Vorschläge, Pflegeheimplätze, einen Tonfall, der so praktisch war, dass er kalt klang.
„Das ist doch vernünftig“, sagte Karin, als wir am Küchentisch saßen. „Da bist du versorgt.“
„Versorgt“, wiederholte Elfriede. „Wie ein Paket.“
Ich merkte, wie ich innerlich Partei ergreifen wollte, aber ich zwang mich, still zu bleiben. Denn das war ihr Kampf, nicht meiner. Ich konnte nur da sein, und Anka konnte genau das, was sie am besten konnte: bleiben, ohne zu fordern.
Am Freitag kam der Moment, in dem alles kippte, nicht dramatisch, sondern ganz leise. Elfriede zeigte Karin eine Schublade im Wohnzimmer, die ich bisher nicht gesehen hatte. Darin lagen Fotos, vergilbte Briefe, ein kleines Notizbuch.
„Das ist Heinz“, sagte Elfriede und strich über ein Foto, auf dem ein Mann mit Schirmmütze lächelte. Neben ihm saß ein Hund, groß, dunkel, der Blick aufmerksam. „Er hat immer gesagt: Wenn ich mal nicht mehr da bin, darfst du nicht verstummen.“
Karin schluckte, und ihr praktischer Tonfall war plötzlich weg. „Warum hast du mir das nie erzählt?“
„Weil du nie gefragt hast“, sagte Elfriede. „Und weil ich nicht jammern wollte.“
Da weinte Karin. Nicht schön, nicht leise, sondern so, wie man weint, wenn man jahrelang versucht hat, stark zu sein, und merkt, dass Stärke manchmal einfach nur Abstand war. Elfriede legte ihre arthritischen Finger auf Karins Hand, und es sah aus, als würden zwei Generationen gleichzeitig lernen, wie Berührung funktioniert.
Am nächsten Morgen standen wir um acht zu viert auf der Terrasse. Karin hatte Kaffee mitgebracht, der zu stark war, und ich tat so, als würde ich es nicht merken. Sie hatte auch eine kleine Dose dabei, in der ein Hausnotrufknopf lag, schlicht, unauffällig, fast unschuldig.
„Ich möchte nicht, dass du wieder da liegst“, sagte Karin. „Und ich… ich möchte nicht mehr die sein, die es nicht merkt.“
Elfriede sah das Ding an, als wäre es ein Eingeständnis. Dann griff sie danach und legte es sich um den Hals, nicht elegant, aber entschlossen. „Gut“, sagte sie. „Aber ich bleibe hier. Solange ich meinen Garten riechen kann.“
Ich hätte vor zwei Monaten nicht geglaubt, dass ich mal über „Schlüsselwege“ rede und dabei ein warmes Gefühl habe. Aber an diesem Tag befestigten wir gemeinsam einen kleinen Schlüsseltresor hinter dem Blumentopf, den nur wir kannten. Und wir verabredeten etwas, das in unserer Straße revolutionär war: nicht nur Grüßen, sondern Fragen.
Die Teenager von nebenan bekamen das natürlich mit, weil Teenager alles mitbekommen, was sie eigentlich nicht interessieren sollte. Am Montag stand der größere von beiden an unserem Zaun, Kapuze tief, Hände in den Taschen, Blick, der so tat, als wäre er zufällig da.
„Ey“, sagte er, und das war sein ganzes Repertoire an Höflichkeit. „Meine Mutter hat gesagt, ich soll… helfen. Mit dem Zaun oder so.“
Ich hätte fast gelacht, weil es so unbeholfen war. Stattdessen nickte ich. „Kannst du einen Akkuschrauber halten?“
„Kann ich“, sagte er sofort, und zum ersten Mal klang er nicht wie Lärm, sondern wie ein Mensch.
Wir bauten eine kleine Holzklappe in die Hecke, nichts Großes, keine architektonische Revolution. Aber in der Logik unserer Straße war es, als hätten wir eine Grenze geöffnet. Elfriede saß auf einem Stuhl, eingepackt, Anka neben ihr, und kommentierte jeden Handgriff.
„Nicht schief, Junge“, rief sie, wenn der Teenager zu stolz wurde. „Heinz hat immer gesagt: Schief wird nur, wenn man nicht guckt.“
Der Teenager grinste, obwohl er es nicht wollte. Und als Anka ihm später die kalte Nase an die Hand drückte, blieb er kurz stehen, streichelte sie einmal und tat dann so, als hätte es keiner gesehen. Ich sah es, und es reichte.
Die Kleinstadt vergaß das fehlende Fenster schneller, als ich gedacht hätte. Vielleicht, weil es ersetzt wurde, vielleicht, weil die Geschichte sich rumsprach, aber diesmal anders: nicht als Skandal, sondern als Beispiel. Plötzlich nickten Leute nicht nur, sie hielten an.
„Wie geht’s der Frau Elfriede?“, fragte die Frau mit dem perfekt geschnittenen Buchsbaum. „Wenn Sie mal… ich könnte auch mal Suppe rüberbringen.“
Ich lernte: Viele warten nur auf eine Erlaubnis, freundlich zu sein. Und manchmal braucht es einen Hund, der diese Erlaubnis still verteilt, indem er jeden Morgen zur gleichen Zeit zeigt, wo es wichtig ist.
Im Advent stellten wir eine kleine Bank an die Hecke, genau an die Stelle, wo früher das Loch war. Keine große Sache, nur Holz, zwei Schrauben, ein bisschen wetterfestes Öl. Aber wenn man drauf saß, konnte man nach links und rechts schauen, ohne sich zu verstecken.
„Das ist unsere Acht-Uhr-Bank“, sagte Karin, und ihre Stimme klang, als hätte sie sich selbst ein Stück verziehen.
„Kitsch“, murmelte Elfriede, und ich sah das winzige Lächeln. „Aber guter Kitsch.“
Am letzten Sonntag vor Weihnachten schneite es, so ein Schnee, der die Geräusche schluckt und die Welt leiser macht. Um acht saßen wir wieder da, Brezeln waren heute Plätzchen, Kaffee war heute Kakao, und Anka schnarchte zwischen uns, als hätte sie endlich Frieden.
„Weißt du“, sagte Elfriede irgendwann, und sie sah nicht mich an, sondern den Garten, der trotz Winter lebendig wirkte. „Ich habe so lange gedacht, wenn man niemanden braucht, ist man stark.“ Sie machte eine Pause, als würde sie die Worte schmecken. „Aber ich glaube, stark ist, wenn man jemanden reinlässt.“
Karin nickte, und ich merkte, dass sie gerade nicht nur ihrer Mutter zuhörte, sondern auch sich selbst. Der Teenager von nebenan ging vorbei, tat so, als hätte er es eilig, und rief trotzdem: „Morgen!“ Es klang unbeholfen, aber ehrlich.
Ich dachte an meinen Vater und seine Thuja-Philosophie. Ich dachte daran, wie leicht man sich hinter Hecken versteckt und es für Anstand hält. Und ich dachte daran, dass Anka mich jeden Morgen um acht verlassen hatte, um jemand anderem die Angst zu nehmen, vergessen zu werden.
Heute verlässt sie mich nicht mehr. Heute führt sie mich. Und wenn ich morgens den Kaffee rieche und den Garten betrete, höre ich nicht mehr nur meine Kaffeemaschine, sondern Stimmen.
Schaut heute mal über eure Hecke, habe ich am Ende von Teil 1 geschrieben. Ich würde es heute anders sagen: Macht irgendwo eine kleine Klappe. Nicht im Holz, sondern im Herzen. Manchmal reicht ein „Guten Morgen“, um ein ganzes Leben daran zu erinnern, dass es gesehen wird.






