Josie und das Zeitungsbündel | Sie fand nur einen Welpen im Zeitungshaufen doch das, was folgte, rührte ein ganzes Dorf

🐾 Teil 4: Die Tür im Felsen

Am nächsten Morgen war es windstill.
Die Welt draußen lag still unter einer Decke aus Nebel.
Josie stand mit Bunti im Arm an der Haustür.
Paul überprüfte die Taschenlampe, den Kompass, und den alten Rucksack mit zwei belegten Broten.

„Bereit?“, fragte er.
Josie nickte.
Sie wusste nicht, wohin Bunti sie führen würde. Aber sie spürte, dass es kein falscher Weg sein konnte.

Sie nahmen den schmalen Pfad am Bach entlang.
Bunti sprang voraus, schnüffelte an Baumrinden, blieb immer wieder stehen und sah sich um, als wollte er fragen, ob sie noch folgten.

Der Wald wurde dichter.
Moos bedeckte die Steine, und das Sonnenlicht brach sich wie flüssiges Gold in den Blättern.
Einmal blieb Bunti abrupt stehen.
Er bellte zweimal, dann bog er vom Weg ab.

Paul warf Josie einen Blick zu.
Sie antwortete mit einem Nicken.
Dann folgten sie ihm.


Nach etwa zwanzig Minuten sahen sie eine Vertiefung im Hang.
Ein alter Bretterverschlag war dort halb eingestürzt.
Ein paar Holzbohlen lagen zerbrochen am Boden.
Dahinter: ein Spalt im Fels, kaum breit genug, um hindurchzupassen.

„Ein alter Versorgungskeller?“, murmelte Paul.
„Oder ein Bunker? Die gab’s hier früher öfter.“

Josie trat näher.
An einem der Holzstücke war etwas eingeritzt.
Ein Name.
Leni.

Bunti kratzte an der Erde vor dem Eingang.
Paul hob die Taschenlampe.
Ein dunkler Gang führte hinein, der Geruch von feuchter Erde und altem Metall wehte ihnen entgegen.

„Wir gehen nur kurz rein. Wenn’s zu gefährlich wird, drehen wir um.“
Josie nickte.
Ihr Herz schlug schnell, aber sie spürte keine Angst. Nur Erwartung.


Drinnen war es kühl.
Die Luft war schwer, aber atembar.
Der Gang war nicht lang. Am Ende öffnete sich ein kleiner Raum.
An den Wänden rostige Regale, leere Konservendosen, ein zusammengefallenes Feldbett.

In der Ecke stand eine Holzkiste.
Darauf lag eine Decke, sauber gefaltet.
Daneben ein Notizbuch, dessen Seiten feucht waren, aber noch lesbar.

Paul schlug es auf.
„Das ist Leonies Handschrift. Schau.“
Er las laut:

„10. Oktober. Heute war wieder jemand da. Ich habe ihn gesehen. Vielleicht sucht er mich. Aber ich kann nicht zurück. Noch nicht.“

Josie hielt den Atem an.
„Sie war hier… vor nicht allzu langer Zeit.“

Paul blätterte weiter.
Einträge über Bunti, über Angst, über Erinnerungen an die Mutter.
Dann ein Satz, eingerahmt mit dicken Linien:

„Ich habe etwas getan, das ich nicht rückgängig machen kann. Aber vielleicht kann ich es weitergeben.“

Josie sah zu Paul.
„Was meint sie damit?“
Er schwieg.


Plötzlich bellte Bunti auf.
Ein Schatten bewegte sich vor dem Eingang.
Paul leuchtete hinaus.
Nichts.

Doch dann hörten sie Schritte.
Schritte auf nassem Laub, vorsichtig, zögerlich.

„Hallo?“, rief Paul.
Keine Antwort.
Nur das leise Knacken eines Astes, dann Stille.

Josie ging bis zum Eingang.
Ein Umschlag lag auf dem Boden, beschwert mit einem Stein.
Sie hob ihn auf, zitternd.

Drinnen: ein Foto.
Ein junger Mann, vielleicht sechzehn, mit dunklen Haaren und einem Welpen auf dem Schoß.
Hinter ihm ein Schild: „Tierheim Sonnenwald – 2007“

Auf der Rückseite stand:
„Er hat nie vergessen. Ich auch nicht.“

Josie drehte sich um.
Paul sah sie fragend an.
„Jemand führt uns. Aber warum so vorsichtig?“
„Vielleicht hat er Angst, entdeckt zu werden“, flüsterte sie.


Sie verließen den Unterschlupf.
Bunti lief ein Stück voraus, blieb dann plötzlich stehen und bellte.
Josie folgte seinem Blick.

Zwischen zwei Bäumen stand eine Gestalt.
Dünn, in dunkler Kleidung.
Kein Mann.
Ein Mädchen. Oder eine junge Frau.

Ihre Augen waren groß, wie erschrocken.
Aber sie machte keine Anstalten zu fliehen.

„Bist du Leonie?“, rief Josie.
Die Gestalt bewegte sich nicht.
Dann drehte sie sich langsam um und verschwand zwischen den Bäumen.

Josie wollte losrennen.
Paul hielt sie zurück.
„Nicht jetzt. Wenn sie wirklich Leni ist, wird sie zurückkommen. Zu dir. Du bist der Schlüssel.“


Am Abend saßen sie wieder in der Küche.
Der Rucksack lag offen, das Notizbuch lag zwischen ihnen.
Josie zeichnete die Karte, wie sie den Weg zum Unterschlupf im Kopf hatte.

„Wir müssen nochmal hin“, sagte sie.
„Vielleicht war das nicht nur ein Versteck. Vielleicht war’s ihr Zuhause.“

Paul sah sie lange an.
„Du gibst nicht auf, was?“
Josie schüttelte den Kopf.

Dann fiel ihr Blick auf den Umschlag mit dem Foto.
Etwas war darin zurückgeblieben.
Ein zweiter, kleinerer Zettel, sorgfältig gefaltet.

Sie öffnete ihn.
Ein einziger Satz stand darauf, in der gleichen krakeligen Schrift wie auf dem ersten Zettel bei Bunti:
„Wenn du weitergehst, wirst du verstehen, warum ich ihn zurücklassen musste.“

Josie legte den Zettel auf den Tisch.
Ihr Atem wurde flacher.
Sie schaute zu Bunti, der neben dem Stuhl lag und schlief.

„Sie hat ihn geliebt“, flüsterte sie.
„Aber sie musste ihn gehen lassen.“

Paul sah auf das Bild.
„Vielleicht war das ihre letzte Hoffnung. Dass jemand ihn findet. Dass jemand weitergeht.“

Josie legte die Hand auf das Notizbuch.
„Und ich werde es tun.“

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