Josie und das Zeitungsbündel | Sie fand nur einen Welpen im Zeitungshaufen doch das, was folgte, rührte ein ganzes Dorf

🐾 Teil 5: Der Junge mit dem weißen Schal

Am Sonntagmorgen lag Raureif auf den Fensterscheiben.
Josie saß mit einem Kissen am Fenster und starrte hinaus in den Garten.
Bunti schlief zusammengerollt auf der Fensterbank, sein Atem hob und senkte sich ruhig.

Paul klopfte an die Tür.
Er trug seinen dicken Mantel und hielt zwei Thermoskannen in der Hand.
„Ich dachte, wir könnten heute einen Ausflug machen. Weg von all dem. Ein wenig Luft holen.“

Josie schaute ihn lange an.
Dann schüttelte sie den Kopf.
„Ich glaub, sie wird heute wiederkommen. Ich hab das Gefühl.“

Paul trat ein.
„Ich glaube, du hast recht. Aber bis dahin… können wir noch eine Spur verfolgen.“

Er zog ein altes Schwarzweißfoto aus der Manteltasche.
Darauf zu sehen: ein Jugendlicher mit einem weißen Schal, der einen kleinen Hund auf dem Arm hielt.
Im Hintergrund ein Schild mit der Aufschrift Tierheim Sonnenwald.

„Ich hab gestern noch mal mit Herrn Rabe gesprochen. Das Heim wurde 2008 geschlossen. Aber damals haben sie ein paar Jugendliche aufgenommen, die aus schwierigen Verhältnissen kamen. Er glaubt, der Junge auf dem Foto hieß Timo.“

Josie nahm das Bild.
Der Blick des Jungen war ruhig, fast traurig.
Sie erinnerte sich an das Gesicht im Wald.
Vielleicht war es derselbe.


Sie fuhren gegen Mittag los.
Das alte Tierheim lag eine Stunde entfernt, an einem Hang oberhalb eines Sees.
Der Zufahrtsweg war mit Ästen und Laub übersät, das Gebäude halb überwuchert.

Josie stieg aus, Bunti sprang sofort hinterher.
Es roch nach feuchtem Stein, nach altem Heu, nach verlassenem Leben.

Die Tür zum Haupthaus hing schief in den Angeln.
Im Inneren lagen alte Decken, zerrissene Plakate, eine umgekippte Futtertonne.

Auf einem der Tische lag ein eingerollter Zettel, mit einer Büroklammer befestigt.
Josie griff danach.
Ein einzelner Satz, geschrieben mit derselben Schrift wie auf den anderen Zetteln:
„Du bist fast da.“

Paul schaute sich um.
„Wer auch immer das hier vorbereitet, er weiß, dass wir kommen.“

Sie gingen weiter in den hinteren Teil des Hauses.
Dort war ein kleiner Raum mit einer kaputten Glasscheibe und einer Sitzbank.
An der Wand hing ein eingerahmtes Foto.

Ein Gruppenbild: sechs Jugendliche, ein Mann in Tierarztschürze und drei Hunde.
Ganz links stand der Junge mit dem weißen Schal.

Darunter ein Namensschild:
Timo Schilling – Pflegerhilfe – 2007

Paul zückte sein Handy und machte ein Foto.
„Vielleicht lebt er noch in der Gegend. Oder jemand kennt ihn.“

Josie sah sich das Bild erneut an.
Der Hund auf Timos Arm war klein, hell, mit einem weißen Fleck über dem Auge.
Er sah Bunti erstaunlich ähnlich.


Auf dem Rückweg machten sie Halt in einem kleinen Ort, nicht weit vom Tierheim.
Sie fragten in der Bäckerei nach, ob jemand den Namen Timo Schilling kannte.

Die Verkäuferin runzelte die Stirn.
„Ich glaub, der wohnt da oben beim alten Güterbahnhof. In so einer Hütte. Kommt selten runter. Hat manchmal Hunde bei sich.“

Paul bedankte sich.
Josie spürte, wie ihr Herz schneller schlug.

Sie fuhren zum Bahnhof.
Dort stand ein kleiner Verschlag mit Blechdach. Rauch stieg auf.
Ein Hund bellte.

Paul stieg aus, hob beide Hände.
„Wir wollen nur reden. Über Bunti. Und Leonie.“

Stille.
Dann öffnete sich die Tür.

Ein junger Mann trat heraus.
Er war schmal, trug einen grauen Mantel und – einen weißen Schal.

Sein Blick war misstrauisch, aber nicht feindlich.
Josie trat einen Schritt nach vorn.
„Du hast ihn gerettet. Du hast Bunti versteckt.“

Der Mann sagte nichts.
Dann nickte er langsam.


Sie setzten sich auf zwei Kisten vor dem Verschlag.
Der Mann reichte ihnen Tee in Blechbechern.
Er roch nach Rauch, nach Erde, aber auch nach Lavendel.

„Leonie hat ihn mir gebracht“, sagte er leise.
„Vor drei Monaten. Sie kam nachts. Hatte Tränen in den Augen. Und sagte nur: Er muss leben.“

Paul hörte still zu.
„Warum sie? Warum zu dir?“

Timo schaute in den Dampf seines Bechers.
„Weil ich es auch mal war. Einer von denen, die nicht wussten, wohin. Monika hat mich aufgenommen. Wie viele andere auch. Aber Leonie… sie war wie ein Schatten. Kam und ging, redete kaum.“

Josie streichelte Bunti.
Der Hund hatte sich an Timos Bein gelegt.
Sein Schwanz wedelte leicht.

„Warum hat sie sich versteckt?“, fragte sie.
Timo zögerte.
„Sie hat etwas gesehen. Etwas, das sie nicht vergessen konnte. Und sie glaubte, dass niemand ihr zuhört.“

Paul hob die Augenbrauen.
„Was hat sie gesehen?“

Timo schüttelte den Kopf.
„Das musst du sie selbst fragen.“


Als sie sich verabschiedeten, reichte Timo Josie einen kleinen Beutel.
Darin lag eine Messingmarke, wie sie Hunde früher trugen.
Darauf eingeritzt: „Flocke – Nr. 17“

„Flocke war Leonies erster Hund“, sagte Timo.
„Sie hat ihn mit fünf gefunden. Er war alles für sie. Vielleicht hilft dir das weiter.“

Auf der Rückfahrt sagte niemand etwas.
Nur der Regen klopfte leise gegen das Autodach.

Josie hielt die Marke fest in der Hand.
Sie spürte, dass alles verbunden war.
Die Frau im Zeitungshaufen, der Mann im Wald, der verschlossene Bunker, das leere Haus.

Aber eines fehlte noch.
Leonie selbst.


Als sie spätabends zu Hause ankamen, lief Bunti sofort zur Hintertür.
Er bellte, stellte die Ohren auf, schnüffelte angestrengt.

Paul öffnete.
Im Garten stand niemand.
Nur auf der Bank unter dem Apfelbaum lag etwas.

Ein Stück Papier, in Folie gewickelt.
Josie hob es auf.

Ein letzter Zettel.

„Wenn du den Ort findest, an dem Flocke liegt, wirst du auch mich finden.“

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