🐾 Teil 6: Wo Flocke ruht
In der Nacht konnte Josie kaum schlafen.
Der Regen hatte aufgehört, aber in ihrem Kopf rauschte es weiter.
Bilder schoben sich ineinander: Monikas lächelndes Gesicht, Leonie im Nebel, der weiße Schal von Timo, und mittendrin Bunti – klein, zitternd, aber wachsam.
Als der Morgen graute, lag ein stilles Licht über dem Garten.
Paul saß schon in der Küche, trank seinen ersten Kaffee.
Josie trat barfuß zu ihm, hielt den Zettel aus dem Garten in der Hand.
„Wenn Flocke ihr erster Hund war“, sagte sie leise, „dann hat sie ihn sicher irgendwo begraben. Vielleicht an einem Ort, der ihr wichtig war.“
Paul nickte.
„Monika hatte früher eine kleine Streuobstwiese. Am Rand vom Dorf, nicht weit vom alten Bahndamm. Dort war sie oft mit den Hunden.“
Josie zog sich schnell an, Bunti lief ihr bereits voraus.
Sie schnallte ihm das kleine Ledergeschirr um, in dem die Marke mit der Nummer 17 steckte.
Paul nahm einen Spaten und ein Glas mit Hundekeksen.
„Man weiß nie, was man findet.“
Der Weg zur Streuobstwiese war von Nebelschwaden durchzogen.
Die alten Apfelbäume standen wie stumme Wächter da.
Ein paar letzte Früchte hingen an den Zweigen, schrumpelig, vom Frost gezeichnet.
Die Wiese war ungemäht, das Gras hüfthoch.
Doch Bunti schien zu wissen, wohin er wollte.
Er trabte zielsicher einen Trampelpfad entlang, bis zu einem Baum, dessen Stamm schief gewachsen war und sich fast wie ein Bogen über den Boden krümmte.
Dort blieb er stehen.
Er schnupperte, kratzte, setzte sich dann still hin.
Paul trat neben ihn.
„Hier hat jemand gegraben. Ist lange her. Erde hat sich gesetzt.“
Er begann vorsichtig mit dem Spaten zu arbeiten.
Nach wenigen Minuten stieß er auf Holz.
Ein kleines, verwittertes Kästchen.
Obenauf: eine Hundemarke, identisch mit der, die Timo ihnen gegeben hatte.
Josie kniete sich hin.
Ihre Finger zitterten, als sie den Deckel öffnete.
Drinnen lag ein Stoffband, ein verblichenes Foto – ein kleines Mädchen mit einem schneeweißen Hund auf dem Schoß und ein zusammengefaltetes Blatt Papier.
Paul reichte es ihr.
Josie entfaltete es langsam.
Die Schrift war krakelig, voller Tintenkleckse, aber lesbar.
„Ich wollte Flocke nie hierlassen. Aber Mama sagte, er soll ruhen, wo er glücklich war. Ich hoffe, ich kann das auch irgendwann.“
Ein Tropfen fiel aufs Papier.
Josie bemerkte, dass sie weinte.
„Sie war hier“, flüsterte sie.
„Vielleicht ist sie es noch.“
Paul schaute sich um.
„Das Haus, das Monika früher hier hatte, stand gleich dahinter. Wurde später abgerissen. Aber der Geräteschuppen müsste noch da sein.“
Sie liefen durch das hohe Gras.
Tatsächlich, zwischen Brombeersträuchern stand ein altes Häuschen aus Holz.
Fenster blind vor Schmutz, das Dach halb eingefallen.
Bunti bellte leise und schlich an die Tür.
Sie war nur angelehnt.
Josie schob sie langsam auf.
Der Raum war klein, fast leer.
Ein alter Stuhl, ein zusammengefalteter Schlafsack, eine Taschenlampe.
Und in der Ecke, ein Block mit handschriftlichen Notizen.
Paul hob ihn auf.
„Das ist sie wieder. Ihre Schrift.“
Er las leise:
„Ich höre ihre Stimmen manchmal. In Träumen. Mama, Flocke, die Hunde. Timo war da. Er hat ihn genommen. Ich weiß nicht, ob ich das Richtige tue.“
Josie spürte ein Kribbeln im Bauch.
Sie trat ans Fenster, schaute hinaus.
Zwischen zwei Bäumen bewegte sich etwas.
Eine Gestalt, klein, dünn, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
Sie rief nicht.
Bewegte sich nicht.
Aber sie stand da als wollte sie gesehen werden.
Paul trat neben sie.
„Bleib hier. Ich spreche mit ihr.“
Doch als er die Tür öffnete, war niemand mehr zu sehen.
Nur ein kleiner Anhänger hing an einem Ast.
Ein dünnes Lederband, daran ein Metallring.
Darauf eingraviert: „Für L.“
Paul nahm ihn ab.
„Sie lässt uns nicht allein. Aber sie hat Angst. Vielleicht vor uns. Vielleicht vor sich selbst.“
Josie trat hinaus in die Stille.
Der Wind hatte sich gelegt, die Sonne schimmerte durch die Wolken.
Sie ging zurück zum Baum, unter dem Flocke begraben lag.
Setzte sich ins feuchte Gras.
Bunti legte sich neben sie.
Sie strich ihm über den Rücken, langsam, beruhigend.
„Wir haben dich gefunden. Vielleicht findet sie sich auch wieder.“
Am Abend saßen sie am Küchentisch.
Paul hatte Tee gekocht, Josie schrieb in ihr Notizbuch.
Sie zeichnete den Baum, daneben den Anhänger, und darunter schrieb sie:
„Wenn man jemanden gehen lässt, heißt das nicht, dass man ihn aufgibt. Vielleicht bedeutet es, dass man ihm die Zeit gibt, zurückzukehren.“
Paul schaute über ihre Schulter.
„Du wirst mal eine gute Erzählerin.“
Josie lächelte, aber ihre Gedanken wanderten weiter.
„Glaubst du, sie kommt nochmal?“
Paul schwieg einen Moment.
Dann sagte er:
„Wenn du morgen früh vor Sonnenaufgang wach bist dann vielleicht.“
In dieser Nacht schlief Josie mit angelehntem Fenster.
Der Wind war leise, wie ein Flüstern.
Bunti schlief an ihrer Seite, die kleine Marke unter dem Kissen.
Und im Traum hörte sie eine Stimme, ganz fern, aber klar.
„Danke, dass du ihn gefunden hast. Jetzt kann ich vielleicht wieder atmen.“