Josie und das Zeitungsbündel | Sie fand nur einen Welpen im Zeitungshaufen doch das, was folgte, rührte ein ganzes Dorf

🐾 Teil 8: Die vergessenen Namen

Der nächste Tag begann mit Frost.
Die Fenster waren von feinen Eiskristallen überzogen, und im Garten knackte das Gras unter jedem Schritt.
Josie saß am Küchentisch, ein großes Buch vor sich.

Leonie hatte es ihr am Abend zuvor gegeben.
Ein altes Fotoalbum, in Leinen gebunden, an den Ecken abgegriffen.
Kein Titel, kein Name, nur eine verblasste Blume, eingeprägt in den Deckel.

Paul goss Tee nach.
„Willst du es jetzt schon aufschlagen?“
Josie nickte.
Ihre Finger zitterten leicht, als sie das Buch öffnete.

Auf der ersten Seite klebte ein Bild.
Ein kleines Mädchen mit Zöpfen, auf einem Kissen vor dem Kamin.
Daneben: ein weißer Welpe.

Mit Bleistift stand darunter:
„Leni & Flocke – Winter 1996“

Josie blätterte weiter.
Dutzende Bilder.
Hunde in Decken gewickelt, Kinderhände, die Futternäpfe halten.
Einige Fotos waren eingerissen, manche sorgfältig restauriert.

Zwischen zwei Seiten lag ein Brief.
Die Handschrift war sauber, in Tinte geschrieben.
Paul las ihn laut vor:

„Manche Tiere kommen nicht nur zu uns, weil sie Hilfe brauchen.
Sie kommen, weil wir jemanden brauchen, der uns zuhört.
Flocke war mein Zuhörer. Er war da, als die Stimmen zu laut wurden.
Als Mama mich nicht mehr verstand.
Er war mein letzter Halt.

Und als ich ihn verlor, ging ich.
Aber ich bin nie ganz gegangen.“

Josie schluckte.
Ihre Augen brannten, und auch Pauls Stimme klang anders als sonst.

„Leonie hat viel mehr in sich getragen, als man ihr ansah“, murmelte er.
„Und sie hat nie aufgehört, ihre Geschichte zu erzählen, nur auf andere Weise.“


Am Nachmittag besuchten sie Leonie in der kleinen Hütte auf der Streuobstwiese.
Sie hatte den Ofen angezündet, der Raum war warm und roch nach Zimt und Holzrauch.

„Du hast das Album durchgesehen?“, fragte sie.
Josie nickte.
„Ich glaube, es ist mehr als nur ein Album. Es ist ein Zuhause.“

Leonie lächelte traurig.
„Ich wollte nie, dass alles verloren geht. Deshalb habe ich es aufgehoben.
Aber ich konnte es nicht allein tragen.“

Sie legte ein zweites Buch auf den Tisch.
Dicker, schwerer.
Darin waren Listen.
Namen, Daten, kurze Geschichten.

Paul blätterte vorsichtig.
„Das ist Monikas Archiv“, sagte er erstaunt.
„Sie hat jedes Tier erfasst, jeden Fund, jede Übergabe.“

Leonie zeigte auf einen Eintrag.
„Timo Schilling – Aufnahme Juni 2006 – bleibt zur Mithilfe.“
Darunter:
„Verantwortlich für Hund 17 – Flocke“

Josie starrte auf die Zeile.
„Das heißt… Timo war nicht nur Helfer. Flocke war auch sein Hund.“

Leonie nickte.
„Sie haben sich geteilt. Flocke war für beide da.
Aber als alles zusammenbrach… konnte keiner von beiden bleiben.“

Sie stand auf, trat ans Fenster.
„Ich weiß, Timo wartet auf ein Zeichen. Vielleicht denkt er, ich hätte ihn vergessen.
Aber ich habe einfach nur keine Kraft gehabt, zu sprechen.“

Josie trat neben sie.
„Dann lass uns ihm helfen. So wie du uns geholfen hast.“


Am Abend schrieben sie gemeinsam einen Brief.
Kurz, ehrlich, in klarer Schrift.

„Timo,
du warst nie vergessen.
Nur versteckt.
Wie Flocke, wie ich.
Wenn du noch einmal kommen willst, wir warten.
Leni.“

Sie legten ihn in eine Blechdose und stellten sie auf die alte Bank vor dem Güterbahnhof, wo Timo wohnte.
Keine Namen außen. Nur ein kleiner Zettel daran: „Für den, der zuhört.“


Die nächsten zwei Tage vergingen ohne Antwort.
Josie wurde unruhig. Sie lief oft in den Garten, las die alten Notizen noch einmal durch, versuchte, Spuren zu finden.

Paul blieb ruhig.
„Geduld ist manchmal das Letzte, was wir haben und genau das, was gebraucht wird.“

Am dritten Abend, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, hörten sie das leise Quietschen des Gartentores.

Josie lief zur Tür.
Timo stand da.
Der weiße Schal um den Hals, die Hände tief in den Jackentaschen.
Er sah müde aus, aber in seinen Augen lag etwas Helles.

„Ich hab den Brief gelesen“, sagte er.
„Und ich will hören. Nicht nur einmal.“

Paul bat ihn herein.
Leonie trat aus der Küche, langsam, fast schüchtern.

Es war einen Moment lang still.
Dann sagte sie leise:
„Ich hab dich nicht vergessen.“

Timo nickte.
„Ich hab gewartet. Aber ich bin froh, dass du’s jetzt sagst.“

Sie setzten sich an den Tisch.
Drei Tassen Tee, ein kleiner Teller mit Plätzchen.
Und mitten auf dem Tisch lag Flockes alte Marke, glänzend im Licht der Lampe.


Später, als die Nacht längst hereingebrochen war, fragte Josie:
„Was machen wir jetzt damit? Mit dem Album, den Listen, den Geschichten?“

Leonie antwortete leise, aber bestimmt.
„Wir schreiben weiter.“

Timo nickte.
„Vielleicht bauen wir es wieder auf. Ein neues Zuhause. Für die, die keinen Platz haben.“

Paul sah beide an.
„Ihr habt das, was vielen fehlt. Eine Geschichte. Eine Schuld. Und jetzt eine zweite Chance.“

Josie lehnte sich zurück.
Bunti schnaufte leise unter dem Tisch.
Draußen wehte der Wind durch die kahlen Bäume.

Aber im Haus war es warm.
Und zum ersten Mal fühlte es sich nach Anfang an.

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