Der Junge klammerte sich an mein Bein an der Tankstelle und nannte mich „Papa“.
Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich nicht der Einzige war, der nachts vor seinen Geistern davonfuhr.
Ich war irgendwo an der A7, kurz hinter Kassel, es war fast zwei Uhr morgens.
Der Wind war kalt, meine Hände taub, mein Rücken tat weh von zu vielen Kilometern auf meiner alten Maschine.
Ich stand an einer kleinen, fast leeren Raststätten-Tankstelle, der Automat piepte, Benzin gluckerte in den Tank. Ich dachte an nichts Besonderes, nur daran, endlich wieder auf die Straße zu kommen.
Da hörte ich eine Stimme. Klein. Verzweifelt. Ganz sicher.
„Papa! Papa, ich hab dich gefunden!“
Bevor ich überhaupt reagieren konnte, spürte ich zwei dünne Arme an meinem rechten Bein. Ein kleiner Junge, vielleicht sechs, barfuß in Dino-Schlafanzug, klammerte sich an mich, als würde er im Wasser untergehen und ich wäre sein letztes Stück Holz.
Sein Gesicht war gegen meine alte Lederjacke gedrückt, und er weinte so heftig, dass sein ganzer Körper zitterte.
„Papa, bitte geh nicht wieder weg. Bitte. Ich bin leise, ich verspreche es. Mama weint jede Nacht. Bitte komm nach Hause.“
Ich erstarrte.
Meine Hände noch am Zapfhahn, der Geruch von Benzin in der Luft – und mein Herz blieb stehen.
Weil dieser Junge nicht meiner war.
Ich hatte ihn noch nie in meinem Leben gesehen.
„Hey, Kleiner“, sagte ich leise und versuchte vorsichtig, seine Finger zu lösen. „Ich glaube, du verwechselst da was…“
„Nein!“ Er klammerte sich noch fester. „Ich weiß, dass du es bist! Du hast dieselbe Jacke! Die mit dem Adler hinten drauf! Und du riechst nach Motorrad und Kaffee, genau wie früher!“
In dem Moment flog die Tür vom Tankstellenshop auf.
Eine Frau rannte heraus, Mitte dreißig, in verknitterten Pflegedienst-Klamotten. Man sah ihr an, dass sie seit Stunden auf den Beinen war – blasse Haut, Augenringe, diese müde Art zu laufen, die ich von Nachtschichten kannte.
Als sie den Jungen an meinem Bein sah, blieb sie wie angewurzelt stehen.
„Lukas, Schatz, das ist nicht…“ Ihre Stimme brach. Sie sah mich an – und in ihren Augen war etwas zwischen Schock und Schmerz. „Mein Gott. Du siehst ihm ja wirklich ähnlich.“
„Wem ähnlich?“ fragte ich.
Sie kramte mit zitternden Händen ihr Handy aus der Tasche, entsperrte es und drehte mir den Startbildschirm hin.
Darauf ein Foto: ein Mann auf einem Motorrad, ungefähr mein Alter, gleiche Statur, gleicher Bart. Er trug eine alte Lederjacke mit Adleraufnäher, und vor ihm saß ein kleiner Junge im Dino-Pyjama, lachend – derselbe, der gerade an meinem Bein hing.
„Meinem Mann“, flüsterte sie. „Lukas’ Vater. Er ist vor vierzehn Monaten in Afghanistan gefallen. Wir sind auf dem Weg zu meiner Mutter in Bayern, und Lukas hat dein Motorrad gesehen… deine Jacke…“
Die Worte blieben irgendwo zwischen uns in der kalten Luft hängen.
Der Junge – Lukas – löste langsam sein Gesicht von meiner Jacke. Er sah mich an, ganz genau, mit diesem ernsten Blick, den nur Kinder haben, die schon zu früh zu viel erlebt haben.
Man sah, wie die Verwirrung in seine Augen kroch.
„Du siehst anders aus“, murmelte er. „Die Augen sind falsch.“
Ich schluckte.
„Es tut mir leid, Lukas. Ich bin nicht dein Papa.“
Was dann passierte, hat etwas in mir kaputtgemacht, von dem ich dachte, es wäre längst abgestorben.
Er schrie nicht.
Er stampfte nicht.
Er warf sich nicht auf den Boden.
Er… sackte einfach in sich zusammen.
Als hätte jemand die Fäden eines kleinen Marionettenkörpers durchgeschnitten, ließ er mein Bein los, setzte sich auf den kalten Beton, zog die Knie an die Brust und machte ein Geräusch, das ich nur einmal zuvor gehört hatte – damals, als meiner Mutter gesagt wurde, dass mein Sohn und meine Frau einen betrunkenen Autofahrer nicht überlebt hatten.
Die Frau – später erfuhr ich, dass sie Anna hieß – redete nur noch „Es tut mir leid, es tut mir so leid“, immer wieder.
„Er… er versteht es nicht“, stammelte sie. „Er wartet die ganze Zeit, dass Markus wiederkommt. Die Therapeutin sagt, er steckt in der Verleugnung fest. Und dann sieht er dich…“
Ich sah diesen kleinen, zerbrochenen Jungen auf dem Boden und spürte, wie etwas in mir nachgab. Ich wusste, was Verlust war. Ich hatte meinen Sohn Paul vor siebzehn Jahren verloren. Ich war Feuerwehrmann gewesen, gewohnt an Sirenen, Unfälle, Tod. Aber nichts bereitet dich darauf vor, dein eigenes Kind zu beerdigen.
Ich hatte damals angefangen, mit dem Motorrad durch Deutschland zu fahren, wenn es zu laut im Kopf wurde. Die Kollegen von der Feuerwehr nannten mich irgendwann nur noch „der Pfeifer“, weil ich bei jeder Arbeit in der Werkstatt pfiff, um die Stille zu füllen.
Ich hockte mich neben Lukas.
„Lukas“, sagte ich leise. „Dein Papa kann nicht zurückkommen. Nicht so, wie du es dir wünschst.“
Er presste das Gesicht gegen seine Knie. „Dann war alles umsonst“, flüsterte er.
Ich weiß nicht, warum ich es sagte. Vielleicht, weil ich genauso verzweifelt nach einem Sinn suchte wie er.
„Aber vielleicht… hat er mich geschickt.“
Der Junge hörte auf zu schluchzen. Er hob den Kopf.
Anna sah mich an, als wollte sie protestieren, aber irgendetwas in meinem Gesicht ließ sie schweigen.
„Er hat dich geschickt?“ fragte Lukas.
„Ich heiße Thomas“, sagte ich. „Thomas Brandt. Aber die meisten nennen mich Pfeifer.“
„Warum?“
„Weil ich pfeife, wenn ich arbeite. Auf der Wache… äh… früher bei der Feuerwehr. Das hat alle wahnsinnig gemacht.“
Lukas starrte mich prüfend an. „Papa hat auch gepfiffen“, sagte er schließlich. „Er wollte mir ‘Amazing Grace’ beibringen, bevor er wieder in den Einsatz musste.“
Mir schnürte es die Kehle zu. Ich hatte dieses alte Kirchenlied jahrelang im Kopf gehabt. Wir pfiffen es früher nachts in der Werkstatt, wenn wir nach einem schlimmen Einsatz die Fahrzeuge wieder fit machten. Es war so etwas wie unser kleines Ritual gegen die Dunkelheit.
„Kannst du es pfeifen?“ fragte Lukas.
Ich nickte. „Ich kann es versuchen.“
Also stand ich mitten in der Nacht an einer Autobahn-Tankstelle und pfiff „Amazing Grace“ für einen Jungen, dessen Vater nie wieder nach Hause kommen würde.
Anna hielt sich beide Hände vors Gesicht, Tränen liefen ihr über die Wangen. Man sah, wie sehr sie versuchte, stark zu bleiben – für ihn, für sich.
Als ich fertig war, stand Lukas auf. Seine Stimme war jetzt ruhig, irgendwie zu alt für sein kleines Gesicht.
„Papa hat dich nicht geschickt“, sagte er. „Das weiß ich. Aber vielleicht… vielleicht bist du auch traurig?“
„Ja, Lukas“, sagte ich ehrlich. „Ich bin ziemlich traurig.“
„Warum?“
„Weil mein Sohn gestorben ist. Er war sieben. Fast so alt wie du.“
Lukas kam näher und nahm meine Hand. Seine war klein, warm und weich – Kinderhand, die noch nicht gelernt hat, sich zu verhärten.
„Vielleicht“, sagte er langsam, „können wir dann zusammen traurig sein. Mama sagt, traurig ist leichter, wenn man es teilt.“
Ich sah zu Anna. Sie beobachtete ihren Sohn – diesen Jungen, der seit Monaten kaum mehr ganze Sätze gesprochen hatte, wie ich später erfuhr – und jetzt stand er hier und hielt die Hand eines Fremden.
„Wohin fahren Sie?“ fragte sie schließlich.
„Nirgendwo so richtig“, antwortete ich. „Einfach weg.“
„Wir fahren zu meiner Mutter nach Unterfranken“, sagte sie. „Neustadt, kleines Dorf. Wir… wir fangen dort neu an.“
Lukas drückte meine Hand. „Du könntest mitkommen“, sagte er. „Oma macht Pfannkuchen.“
„Lukas, Schatz, Thomas hat sicher…“
„Ich habe nichts“, unterbrach ich sie. Ich hörte meine eigene Stimme und konnte mir kaum glauben. „Wirklich nicht.“
Was ich ihr nicht sagte:
Dass ich seit Jahren vor einem leeren Zuhause davonfuhr.
Dass ich mir eingeredet hatte, allein zu sein wäre leichter, als wieder jemanden zu verlieren.
Dass ich eigentlich nur noch unterwegs war, damit ich nicht anhalten musste.
„Fahren Sie einfach hinter uns her“, sagte Anna leise. „Bis zu meiner Mutter. Mehr verlange ich nicht.“
Ich hätte „Nein“ sagen sollen.
Ich hätte aufsteigen, den Motor starten und in die Dunkelheit verschwinden sollen.
Stattdessen sah ich Lukas’ Hand in meiner – und nickte.
Wir fuhren in Kolonne durch die Nacht. Anna im alten Kombi vorne, ich hinterher. Durch die Heckscheibe sah ich Lukas’ Gesicht, wie es sich gegen die Scheibe drückte, um zu kontrollieren, dass ich nicht plötzlich verschwinde.
Wir hielten am Morgen an einer Raststätte irgendwo bei Würzburg.
Anna bestellte uns Frühstück. Lukas bestand darauf, sich neben mich zu setzen, nicht neben seine Mutter. Er bestellte Pfannkuchen, rührte aber nur darin herum.
„Papa hat auch Pfannkuchen bestellt, das letzte Mal“, murmelte er. „Bevor er wieder weg musste.“
Anna legte ihm die Hand auf den Arm, er zog sie weg.
„Ich habe auch keinen Hunger“, sagte er.
„Du musst etwas essen, Schatz.“
„Thomas isst auch nichts.“
Es stimmte. Vor mir stand nur ein Kaffee. Die ganze Situation – der Junge, der mich für seinen Vater gehalten hatte, seine Verzweiflung – lag mir wie ein Stein im Magen.
„Wie wäre es damit“, schlug ich vor. „Wir beide nehmen jetzt genau einen Bissen. Gleichzeitig. Und wenn wir das schaffen, sind wir schon zwei Schritte weiter als gestern.“
Lukas überlegte. „Versprichst du, dass du danach nicht wegfährst?“
„Lukas…“ begann Anna.
„Ich verspreche“, sagte ich.
Also aßen wir Pfannkuchen, einen synchronisierten Bissen nach dem anderen. Lukas beobachtete mich die ganze Zeit, als könnte ich mich in Luft auflösen, wenn er nur einmal blinzelt.
„Thomas?“ fragte er plötzlich. „Hattest du auch einen Sohn?“
Anna atmete hörbar ein.
Ich nickte.
„Ja“, sagte ich. „Er hieß Paul.“
„Wo ist er?“
„Er ist dort, wo auch dein Papa ist.“
Lukas’ Augen wurden groß. „Im Himmel?“
„Ja.“
Er dachte kurz nach. „Vielleicht sind sie jetzt Freunde“, sagte er dann. „Vielleicht zeigt dein Paul meinem Papa, wie alles da oben geht.“
Diese einfache, kindliche Logik – dieser Wunsch, dass die Toten sich gegenseitig helfen – traf mich härter als jeder Schlag.
Ich entschuldigte mich, ging auf die Toilette, stützte mich auf dem Waschbecken ab und weinte zum ersten Mal seit Pauls Beerdigung.
Weinte um meinen Sohn, um Lukas’ Vater, um Anna, um all die, die wir verloren hatten.
Als ich zurückkam, saß Lukas wieder neben seiner Mutter. Sie flüsterte ihm etwas zu, er nickte.
„Thomas“, sagte Anna. „Lukas möchte wissen, ob du ihm ‘Amazing Grace’ beibringst. So, wie sein Papa es wollte.“
Wir fuhren noch drei Stunden. Lukas schlief irgendwann ein, erschöpft von Tränen und Hoffnung.
Anna rief mich über Handy an, Freisprechanlage.
„Mein Mann hieß Markus“, sagte sie. „Unteroffizier bei der Bundeswehr. Drei Einsätze, alles gut gegangen. Dann der vierte. Straßenbombe.“
„Es tut mir leid“, sagte ich.
„Lukas war dabei, als man mir die Nachricht brachte“, fuhr sie fort. „Er sah, wie ich zusammengebrochen bin. Aber er selbst hat nie geweint. Nicht einmal bei der Beerdigung. Die Therapeutin sagt, er will stark sein für mich. Mit sechs.“
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